Kathedrale
Sonnenlicht fiel durch die Verandatür, doch es brachte ihm keine Freude. Der Augusttag – war es wirklich schon August? – würde heiß und drückend werden, aber er konnte damit gefälligst warten, bis Joseph seinen morgendlichen Kaffee getrunken hatte.
Zwölf Uhr fünfundfünfzig. Na gut, dann eben nachmittäglichen Kaffee. Er zuckte mit den Achseln und begann, die Bohnen zu mahlen. Den Schmerz in seinen Fingern, seinem Nacken und den Schultern ignorierte er nach Kräften. Wie auch den in seiner Seele. Morgen. Mittag. Nacht. Verflucht, wo lag denn schon der Unterschied?
Er brühte den Kaffee mit kochendem Wasser auf und sah sich in der Küche um, in der sich seit Jahren nichts Nennenswertes verändert hatte. An der hinteren Wand und über der Spüle hing ein gerahmtes Foto der Fassade seines Restaurants. Das Gebäude, in dem sich seit einem Vierteljahrhundert Sisko’s Creole Kitchen befand, war schon seit zwei Jahrhunderten ein Blickfang im Französischen Viertel von New Orleans. Dort hatte Joseph im Dienste seiner Stamm- und Laufkundschaft stets Zuflucht gefunden, wann immer die Sorgen des Lebens ihn zu überwältigen drohten. In späteren Jahren, als sein Herz schwächer wurde und Angestellte, Freunde und Kunden ihn gleichermaßen zum Kürzertreten anhielten, war ihm das bezaubernde alte Gebäude eine Erinnerung an einfachere Zeiten geworden. Zeiten, in denen Judith und Ben noch Kinder gewesen waren. Zeiten, in denen er noch nichts von den Formwandlern des Dominion gehört und nie über die Kollateralschäden nachgedacht hatte, die die Sternenflotte bei Menschen hinterließ, die doch einfach nur ein ruhiges Leben führen wollten.
Ich habe mir stets gewünscht, dass du einmal Koch wirst, Benjamin. Schau, was es uns gebracht hat.
Auf dem Regal neben der Spüle lag eine geöffnete Plastikflasche. Die Herzmedizin. Joseph hatte sich schon seit einer geschlagenen Woche ein neues Rezept holen wollen, hatte aber immer dringendere Dinge zu tun gefunden. Irgendwo in seinem Kopf hörte er nun Bens zornige Stimme: Verdammt, Dad! Bitte doch dein Personal um Hilfe. Kannst du nicht einmal tun, was man dir sagt?
Das Licht der frühen Nachmittagssonne enthüllte die dichte Staubschicht auf dem gläsernen Rahmen des Fotos. Joseph streckte die Hand aus und berührte die Stelle, an der Ben einen von Josephs liebsten Sinnsprüchen hatte eingravieren lassen. »Zweifel und Sorge sind die größten Feinde eines großen Kochs.« Als er die Hand zurückzog, klebten Staub und Fettreste an seinen Fingerkuppen. So sehr er sich auch den Kopf zerbrach, wusste er nicht zu sagen, wann er hier zuletzt richtig saubergemacht hatte. Vielleicht spielte auch das keine Rolle mehr.
Ein paar Minuten später stand er vor der Spüle, in der Hand eine Tasse mit heißem, starkem Kaffee. Die Hand zitterte leicht, sodass er sich gezwungen sah, die Tasse abzustellen. Fluchend hielt er die Hand, auf die er sich unbeabsichtigt etwas der dunklen Flüssigkeit geschüttet hatte, unter das kühlende Leitungswasser. Da fiel sein Blick auf eine der Pfannen im Abtropfsieb – und auf sein eigenes Spiegelbild.
Joseph drehte den Hahn ab und starrte auf das eingefallene Gesicht. Seit Monaten ignorierte er es nach Kräften, wenn es ihm im Badezimmerspiegel begegnete. Wann hatte er eigentlich mit dem Rasieren aufgehört? Und seit wann war sein Haar derart schlohweiß?
Joseph nahm die Pfanne und verstaute sie in einem der unteren Küchenschränke. Dadurch kippten einige andere Utensilien um, doch er scherte sich nicht um ihr Gepolter.
Als wieder Ruhe eingekehrt war, hörte er nur noch das Schlagen seines Herzens und das Summen der Wanduhr, die unermüdlich seine verbleibenden Stunden und Tage zählte.
Hatte ich heute etwas vor? Er nahm seinen Kaffee, diesmal vorsichtiger, und dachte ohne große Lust an den bevorstehenden Abend. Die Gäste würden ankommen, wie stets: erst vereinzelt, dann in großen Schüben. Es würde ein ganz normaler Abend werden, kein Unterschied zu denen aus den Jahren davor.
Das genügt. Er stellte die halb volle Tasse weg und zog seinen dünnen Morgenmantel enger um seinen dürren Leib. Aus dem Fenster oberhalb der Spüle konnte er den Gemüsegarten sehen, und sofort kam ihm sein Plan für den Tag in den Sinn. Joseph ging zur Hintertür und schlüpfte in die Gartenstiefel, die er auf der Fußmatte stehen gelassen hatte. Dann nahm er sich die Handschuhe vom Haken neben der Tür und trat ins Freie.
Goldammern und Eichelhäher sangen
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