Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
einen Mordprozeß, „ist für uns ‘der Tag des Heilens’. Wir haben zwei Arten, die Zeit zu messen: das islamische Jahr, das ist ein Mondjahr, und das Sonnenjahr, das nach dem westlichen Kalender am einundzwanzigsten März beginnt.
„Zu Beginn des Sonnenjahres“, sprach er weiter und brachte Notizbücher, Kugelschreiber und Füllhalter zum Vorschein, die er in Reihen sortierte, „müssen wir nach dem Gebot des Propheten in der ersten Woche zehnmal am Tag Sprüche aus dem Koran rezitieren. In der zweiten Woche müssen wir sieben Tage jedesmal nach dem Aufstehen auf eine Schale mit Wasser hauchen und das Wasser dann trinken. Dann - am achten Tag“, Scharrif sah mich plötzlich an, als erwarte er, mich bei irgend etwas zu ertappen. Er lächelte unbestimmt, und ich erwiderte sein Lächeln - wie ich hoffte - ebenso unbestimmt. „Das heißt, wenn die von Mohammed vorgeschriebenen Rituale durchgeführt worden sind, dann wird am achten Tag der zweiten Woche dieses Zaubermonats der Mensch von all seinen Krankheiten geheilt gleichgültig, woran er leidet. Und das ist der vierte April. Man glaubt, daß Menschen, die an diesem Tag geboren worden sind, die Kraft besitzen, andere zu heilen - beinahe, als seien sie... Aber natürlich, Sie kommen aus dem Westen und interessieren sich wohl kaum für diesen Aberglauben.“
Bildete ich es mir ein, oder beobachtete er mich wirklich wie die Katze eine Maus? Ich wollte gerade eine gleichgültige Miene aufsetzen, als er einen leisen Schrei ausstieß, bei dem ich erstarrte.
„Aha!“ rief er und schob mir mit einer geschickten Handbewegung etwas über den Tisch. „Wie ich sehe, interessieren Sie sich für Schach!“
Es war Lilys kleines Steckschachspiel, das seit dem Turnier vergessen in meiner Umhängetasche lag. Jetzt nahm Scharrif alle Bücher heraus, die mir Nim mit der eindringlichen Aufforderung gegeben hatte, sie so schnell wie möglich zu lesen, in die ich aber noch keinen Blick geworfen hatte, und stapelte sie auf dem Tisch. Dabei sah er sich die Titel sehr genau an.
„Schach - mathematische Spiele. -Ah! Die Fibonacci-Zahlen!“ rief er mit einem triumphierenden Lächeln, als habe er mich überführt. Er klopfte auf das langweilige Buch, das Nim geschrieben hatte. „Sie interessieren sich demnach für Mathematik?“ fragte er und sah mich durchdringend an.
„Eigentlich nicht“, erwiderte ich, stand auf und begann, meine Siebensachen wieder in die Tasche zu räumen, während Scharrif mir ein Stück nach dem anderen über den Tisch reichte. Es war kaum zu glauben, daß jemand wie ich soviel nutzloses Zeug um die halbe Welt geschleppt hatte. Aber so war es nun einmal.
„Was wissen Sie über die Fibonacci-Zahlen?“ fragte er, als ich mich in das Einpacken vertiefte.
„Man benutzt sie für Börsenspekulationen“, murmelte ich. „Die Vertreter der Eliottschen Wellentheorie sagen mit ihnen die Hochs und Tiefs an der Börse voraus - ein gewisser R. N. Eliott hat diese Theorie in den dreißiger Jahren aufgestellt -“
„Dann ist Ihnen der Autor also nicht bekannt?“ unterbrach mich Scharrif. Ich spürte, wie meine Haut bläulichgrün wurde. Meine Hand lag wie erstarrt auf den Büchern, als ich den Kopf hob.
„Ich meine Leonardo Fibonacci“, sagte Scharrif und sah mich ernst an, „ein Italiener, der im zwölften Jahrhundert in Pisa geboren, aber hier aufgewachsen ist - hier in Algier. Er war ein hervorragender Gelehrter und Vertreter der Mathematik des berühmten Mauren AlChwarismi, dem der Algorithmus seinen Namen verdankt, Fibonacci brachte die arabischen Zahlen nach Europa, wo sie die römischen Zahlen ablösten...“
Schade! Ich hätte wissen sollen, daß Nim mir kein Buch zur reinen Unterhaltung gab, selbst wenn es von ihm geschrieben war. Jetzt hätte ich liebend gern gewußt, was in dem Buch stand, ehe Scharrif sein kleines Verhör durchführte. Mir dämmerte etwas, aber ich konnte wieder einmal den Code der Signale nicht entziffern, die ich hörte.
Hatte Nim mich nicht gedrängt, mich mit den magischen Quadraten zu beschäftigen? Hatte Solarin nicht eine Formel für die Springer-Tour entwickelt? Brauchte man für die Botschaften der Wahrsagerin nicht einen solchen Zahlenschlüssel? Weshalb war ich also ein solcher Holzkopf, daß ich nicht zwei und zwei zusammenzählen konnte?
Mir fiel ein, daß ein Maure das Montglane-Schachspiel Karl dem Großen geschenkt hatte. Ich war kein mathematisches Genie, beschäftigte mich aber lange genug mit Computern, um zu
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