Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
glaubte, in der Zeit rückwärts zu gehen, während sie den steilen Pfad hinaufstieg, der in die nackten Felswände gehauen war. Hinter jeder Biegung und Wendung der Steilwand erzählten ihnen neue, auf den dunklen Fels gemalte und geritzte Bilder die Geschichte der Menschen, die durch die verschiedenen Zeitalter hindurch inmitten dieser Felsschluchten gelebt hatten - Zivilisationen, die wie Wellen durchgezogen waren und achttausend Jahre zurückreichten.
Überall Bilder - karminrot, ocker, schwarz, gelb und braun. Sie waren in die steilen Felswände geritzt, gezeichnet oder in leuchtenden Farben in dunkle Nischen oder Höhlen gemalt - Tausende und aber Tausende von Bildern, soweit das Auge reichte. Hier, mitten in der Wildnis, an Stellen gemalt, die nur ein erfahrener Bergsteiger oder - wie Schahin sagte eine Ziege erreichen konnte, erzählten diese Bilder nicht nur die Geschichte der Menschheit, sondern die Geschichte des Lebens.
Am zweiten Tag entdeckten sie die Streitwagen der Hyksos - des Meeresvolks, das zweitausend Jahre vor Christi Ägypten und die Sahara erobert hatte. Mit ihrer hochentwickelten Kriegstechnik - Rüstungen und Streitwagen - waren sie den Kamelen der einheimischen Krieger überlegen. Die Tableaus ihrer Eroberungen lasen sich im Vorbeigehen wie ein offenes Buch. Mireille lächelte bei der Vorstellung, was ihr Onkel Jacques-Louis wohl gedacht hätte, wenn er die Werke dieser anonymen Künstler hätte sehen können, deren Namen im Dunkel der Vergangenheit versunken waren, deren Bilder jedoch Tausende von Jahren überdauert hatten.
Wenn abends die Sonne sank, mußten sie einen sicheren Schlafplatz suchen. Fand sich keine Höhle, dann hüllten sie sich in die Wolldecken, die Schahin mit Zelthaken am Felsen befestigte, damit sie im Schlaf nicht in den Abgrund stürzten.
Am dritten Tag erreichten sie die Höhlen von Tan Zoumaitok. Sie waren so dunkel und so groß, daß sie nur mit Fackeln aus trockenen Zweigen von Büschen etwas sehen konnten. In diesen Höhlen gab es unversehrt erhaltene farbige Darstellungen von Menschen ohne Gesichter mit münzenförmigen Köpfen, die mit zweibeinigen und aufrecht gehenden Fischen sprachen. Die Stämme in alter Zeit, erklärte Schahin, hatten geglaubt, ihre Vorfahren seien als Fische aus dem Meer auf das Land gekommen. Hier fanden sie auch Darstellungen der magischen Rituale, mit denen diese Stämme die Geister der Natur besänftigten: der Spiralentanz eines Dschinn oder ekstatischen Dämons. Er umtanzte entgegen dem Uhrzeigersinn in immer kleiner werdenden Kreisen einen heiligen Stein. Mireille sah sich das Bild lange an. Schahin stand schweigend neben ihr.
Am Morgen des vierten Tags näherten sie sieh dem Gipfel des Plateaus. Als sie die letzte Biegung der Schlucht umrundeten, traten die Felswände zurück, und vor ihnen lag ein breites, tiefes Tal. Auf jedem Stein, auf jedem Felsen sahen sie Farben. Es war das Tal der Riesen. Mehr als fünftausend Bilder bedeckten die Felswände von oben bis unten. Mireille verschlug es den Atem, als ihr Blick über diese unermeßliche Bildergalerie wanderte. Es waren die ältesten Darstellungen, die sie bisher gesehen hatten. Die gefärbten Linien waren so klar und deutlich, als seien diese Bilder erst gestern entstanden.
Mireille verweilte lange dort. Die Geschichten an den Wänden schlugen sie in Bann, zogen sie in eine andere, in eine primitive und geheimnisvolle Welt. Zwischen Erde und Himmel gab es nichts als Farbe und Form - die Farbe erfaßte ihr Blut wie eine Droge, als sie in der Felswand stand, und sie hatte das Gefühl, im Raum zu schweben. Und dann hörte sie einen Ton.
Zuerst dachte Mireille, es sei der Wind - ein hohes Summen wie Luft, die durch einen schmalen Flaschenhals zischt. Mireille hob den Kopf und sah etwa dreihundert Meter über sich eine hohe, vorspringende Felswand, die über die trockene, wilde Schlucht ragte. Im nackten Gestein entdeckte sie plötzlich einen schmalen Spalt. Mireille sah Schahin fragend an. Auch er blickte zu der Felswand hinauf, denn von dort kam der Ton. Er zog den Schleier vor das Gesicht und bedeutete Mireille mit einem Nicken, ihm den schmalen Pfad hinauf zu folgen.
Der Weg führte steil nach oben. Bald wurde er so steil und so schmal, daß Mireille - inzwischen schon im achten Monat schwanger - nach Atem rang und darum kämpfte, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Einmal glitt sie aus und stürzte auf die Knie. Einige lose Steine rollten über den Rand und stürzten
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