Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
dem Schachbrett wenden. „Es steht nichts Interessantes darin. Sie kommen alle von einer
deiner Freundinnen aus früheren Jahren - meist plaudert sie nur über das Wetter in Korsika...“
TASSILI April 1793
Als Mireille über die letzte hohe Düne der Es-Semul El Akbar stieg, sah sie vor sich in der Ferne das Tassili - das Land der Weißen Göttin.
Das Tassilin-Adjer oder das Plateau der Abgründe ragt aus der Wüste auf wie ein langes Band aus blauem Stein, das sich fünfhundert Kilometer durch Algerien bis in das Königreich Tripolis zieht, vorbei an den Ausläufern der Ahaggar und den grünen Oasen am Rand der südlichen Wüste. Hier auf dieser Hochebene und inmitten der tiefen Schluchten lag der Schlüssel zu dem uralten Geheimnis.
Mireille verließ mit Schahin die trostlose Wüste und folgte ihrem Führer in eine enge Talschlucht mit hohen Felswänden, die sich von Westen nach Osten zog. Die Hitze ließ ganz plötzlich nach, und zum ersten Mal seit beinahe einem Monat roch sie frisches Wasser, Sie entdeckte ein kleines Rinnsal, das sich zwischen den Steinen dahinschlängelte. An den Ufern blühte rosa Oleander; auch ein paar Dattelpalmen standen am ausgetrockneten Bachbett. Ihre fedrigen Kronen ragten weit in das schimmernde Blau des Himmels, von dem Mireille nur noch einen kleinen Ausschnitt sehen konnte.
Während ihre Kamele sich den Weg durch die enge Schlucht suchten, öffnete sich vor ihnen ein fruchtbares, breites Tal mit Wasserläufen, in dem Feigen, Pfirsich- und Aprikosenbäume wuchsen. Mireille hatte seit Wochen nichts als gebratene Eidechsen, Salamander und Bussarde gegessen. Jetzt pflückte sie sich Pfirsiche von den Bäumen, und die Kamele kauten gierig die dunkelgrünen Blätter.
Das Tal führte in viele andere Täler und gewundene Schluchten mit eigenem Klima und eigener Vegetation. Im Laufe von Millionen Jahren hatten unterirdische Flüsse sich ihren Weg durch die vielfarbigen Schichten des Gesteins gebahnt. Das Tassili war deshalb zerklüftet und geformt wie eine Unterwasserlandschaft. Der Fluß hatte Schluchten in den Stein geschnitten, deren gezackte Wände aus rosa und weißem Stein an Korallenriffe denken ließen, und breite Täler geschaffen, in denen spiralenförmige Felsnadeln in den Himmel ragten. Die blaugrauen massiven Steilwände der Hochplateaus umgaben diese burgähnlichen Gebilde aus rotem Sandstein wie zyklopische Festungsmauern.
Mireille und Schahin begegneten keinem Menschen. Hoch oben über der Aabaraka Tafelalet erreichten sie Tamrit - das Zeltdorf. Hier säumten tausendjährige Zypressen das Bett des tiefen, eiskalten Wasserlaufs.
In Tamrit ließen sie die Kamele zurück und gingen zu Fuß weiter. Sie nahmen nur so viel Vorräte mit, wie sie tragen konnten. Vor ihnen lag der Teil des Labyrinths, wo die Felsenhänge und Abgründe so gefährlich wurden, daß sich, wie Schahin erklärte, selbst wilde Ziegen und Mufflons selten dorthin wagten.
Sie hatten mit den Leuten im Dorf vereinbart, daß die Kamele versorgt würden. Die Menschen starrten mit großen Augen auf Mireilles rote Haare, die jetzt im Sonnenuntergang wie Flammen aufleuchteten.
„Wir müssen hier übernachten“, erklärte Schahin, - das Labyrinth kann man nur bei Tag betreten. Morgen brechen wir auf. In der Mitte des Labyrinths ist der Schlüssel...“ Er hob den Arm und deutete auf das Ende der Schlucht, wo die Felswände so steil aufragten, daß sie bereits im blauschwarzen Schatten lagen, während die Sonne hinter dem Rand versank.
„Die Weiße Göttin“, flüsterte Mireille und hob den Kopf. Die bizarren Schatten ließen den Eindruck entstehen, als ob die zerklüfteten Felsen sich bewegten. „Schahin, du glaubst doch nicht wirklich, daß dort oben eine steinerne Frau ist - ich meine eine lebende Frau?“ Ein Schauer überlief sie, als auch die letzten Sonnenstrahlen verschwanden und die Luft spürbar kalt wurde.
„Ich weiß es“, erwiderte er flüsternd, als könne sie jemand hören. „Man sagt, daß sie manchmal, wenn sie allein ist, bei Sonnenuntergang eine seltsame Melodie singt. Vielleicht... wird sie für dich singen.“
In Sefar war die Luft kalt und klar. Hier sahen sie die ersten Felszeichnungen - aber es waren nicht die ältesten - von kleinen Teufeln, die Hörner hatten wie Ziegen. Sie stammten aus der Zeit 1500 vor Christi. Je höher sie kamen und je schwieriger der Aufstieg wurde, desto älter waren die Zeichnungen und auch geheimnisvoller, magischer und vielschichtiger.
Mireille
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