Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
plötzlich. Es dauerte eine Weile, bis ich bemerkte, daß sich ihre Lippen bewegten und daß sie es war, die gesprochen hatte. Harry beugte sich noch weiter über den Tisch, um sie zu verstehen, und Llewellyn ruckte ebenfalls naher.
„Sie sind in großer Gefahr“, sagte die Wahrsagerin, „ich spüre überall Gefahr - auch jetzt.“ „Gefahr?“ wiederholte Harry ungehalten. In diesem Augenblick erschien eine Kellnerin mit Champagner. Harry bedeutete ihr gereizt, den Kühler hinzustellen und zu gehen. „Was reden Sie da? Soll das ein Scherz sein?“ Die Frau blickte auf das Klemmbrett und klopfte mit dem Kugelschreiber gegen den Metallrahmen. Sie schien zu überlegen, ob sie weitersprechen sollte. Ich fing an, mich zu ärgern. Weshalb versuchte diese Salonwahrsagerin mir angst zu machen? Sie hob plötzlich den Kopf. Sie mußte meinen Ärger in den Augen gesehen haben, denn auf einmal wurde sie sehr geschäftsmäßig. „Sie sind Rechtshänderin“, erklärte sie, „also steht in ihrer linken Hand das Schicksal geschrieben, mit dem sie auf die Welt gekommen sind. Die rechte Hand zeigt die Richtung, in der Sie sich bewegen. Geben Sie mir zuerst Ihre linke Hand.“ Ich muß gestehen, es war seltsam, denn während sie meine linke Hand stumm ansah, hatte ich plötzlich das unheimliche Gefühl, daß die Frau wirklich etwas in der Hand sah. Ihre dünnen, knochigen Finger, die meine Hand umklammert hielten, waren kalt wie Eiszapfen. „Oh, oho!“ rief sie mit merkwürdiger Stimme, „Sie haben vielleicht eine Hand, junge Dame.“ Sie fuhr fort, meine Hand schweigend zu betrachten, und ihre Augen hinter der Glitzerbrille wurden groß. Das Klemmbrett rutschte ihr vom Schoß und fiel auf den Boden. Aber niemand bückte sich, um es aufzuheben. Die unterdrückte Spannung an unserem Tisch stieg spürbar, aber alle blieben stumm. Alle Augen richteten sich unverwandt auf mich, während um uns herum der Lärm der Halle tobte. Die Wahrsagerin umfaßte meine Hand mit beiden Händen. Mir tat der Arm weh. Ich versuchte, sie ihr zu entziehen, aber sie hielt sie wie ein Schraubstock umklammert. Das machte mich irgendwie wütend. Mit der freien Hand versuchte ich, ihre langen knochigen Finger von meiner Linken zu lösen, und setzte zum Protest an. „Hören Sie zu“, unterbrach sie mich leise. Ihre zuvor krächzende Summe klang plötzlich sanft und angenehm. An ihrer Aussprache erkannte ich, daß sie keine Amerikanerin war, aber ich konnte nicht ausmachen, woher sie kam. Die grauen, wirren Haare und der gekrümmte Rücken erweckten zwar den Eindruck, sie sei uralt, aber ich bemerkte jetzt, daß sie größer
war, ab es den Anschein hatte. Die zarte Haut hatte beinahe keine Falten. Ich wollte wieder etwas sagen, aber der riesige Harry war aufgestanden und beugte sich über uns. „Das ist mir zu melodramatisch“, erklärte er und legte der Wahrsagerin die Hände auf die Schulter. Dann griff er in die Hosentasche und schob der Frau noch ein paar Geldscheine zu. „Ich schlage vor, wir lassen es dabei bewenden.. .“
Die Wahrsagerin beachtete ihn nicht und flüsterte mir zu: „Ich bin gekommen, um Sie zu warnen. Wohin Sie auch gehen, sehen Sie sich gut um. Trauen Sie niemandem. Seien Sie jedem gegenüber mißtrauisch, denn die Linien Ihrer Hand zeigen... o ja, das ist die prophezeite Hand.“
„Wer hat das prophezeit?“ fragte ich. Sie griff wieder nach meiner Hand und fuhr sanft mit dem Zeigefinger die Linien nach. Sie hielt die Augen geschlossen, als lese sie eine Blindenschrift. Noch immer flüsternd sprach sie,
als erinnere sie sich an etwas - vielleicht an ein Gedicht, das sie vor langer Zeit gehört hatte. „Ja, diese Linien sind ein Schachbrett, sind ein Code. Aber so ist es auch mit dem vierten Tag im vierten Mond. Dann riskier wie sie den Zug und sei bereit. Oh, ein weiteres Patt darf nicht sein, sonst wird keiner verschont. Urteile im Spiel, ob als Metapher, ob in Wirklichkeit, brennt die eiskalte Schlacht, und Schwarz ist bedroht. Ewig währt der arge Zwist, der sie entzweit. Kämpf um das Geheimste, die Dreiunddreißigunddrei, bis zum Tod. Versiegelt ewig schweigt sonst der Mund, und das Wagnis lohnt.“
Ich schwieg, als sie aufhörte zu sprechen. Harry stand mit den Händen in den Hosentaschen am Tisch. Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprach - aber es war doch merkwürdig. Ich hatte das Gefühl, schon einmal in dieser Bar gewesen zu sein und ihre Worte gehört zu haben.
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