Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
Ich ging durch die Tür und zum Balkon und grübelte über diese seltsame Begegnung nach. Dann fiel es mir ein: Er erinnerte mich an die Wahrsagerin.
Lily und Hermanold winkten mir von unten zu. Sie standen auf dem schwarzweißen Marmor und wirkten wie zwei seltsam gekleidete Schachfiguren auf einem chaotischen Schachbrett, denn andere Gäste liefen um sie herum.
„Kommen Sie herunter“, rief Hermanold, „ich möchte Sie zu dem versprochenen Drink einladen.“
Ich ging an der Brüstung entlang zu der mit einem roten Teppich belegten Marmortreppe und hinunter zum Foyer. Ich wollte unbedingt mit Lily unter vier Augen sprechen und ihr erzählen, was geschehen war.
„Was möchten Sie trinken?“ fragte Hermanold, als ich an ihren Tisch trat. Er zog einen Stuhl zurück und ließ mich Platz nehmen. Lily saß bereits. „Wir sollten Champagner trinken. Es kommt nicht jeden Tag vor, daß Lily bei einem Turnier anwesend ist, wenn sie nicht spielt!“
„Das ist kein alltägliches Spiel“, erwiderte Lily gereizt und ließ den Pelz, über die Stuhllehne fallen. Hermanold bestellte Champagner und begann, sich ausgiebig selbst zu beweihräuchern.
„Das Turnier läuft glänzend. Jedes einzelne Spiel ist bereits völlig ausverkauft. Die teuren Ankündigungen und die Publicity zahlen sich aus. Aber selbst ich hätte nicht ahnen können, welche Stars diesmal teilnehmen. Zuerst erklärt sich Fiske wieder zu einem Spiel bereit, und dann die Bombensensation: Solarin in New York! Und natürlich Sie“, fügte er hinzu und tätschelte Lily das Knie. Ich wollte ihn unterbrechen und mich nach dem Fremden erkundigen, aber ich kam nicht zu Wort.
„Wirklich schade, daß ich für das Spiel heute nicht den großen Saal im Manhattan haben konnte“, sagte Hermanold, als der Champagner gebracht wurde. „Er wäre bis auf den letzten Platz besetzt. Aber ich habe meine Bedenken mit Fiske, wissen Sie. Die Ärzte stehen bereit - für alle Fälle... Ich dachte mir, es sei das beste, ihn an den Anfang zu stellen. Dann ist er sofort ausgeschaltet. Er würde das Turnier ohnehin nicht durchstehen, und außerdem zieht sein Auftreten allein die Presse schon an.“
„Das klingt ja wirklich aufregend“, warf Lily ein, „man hat die Möglichkeit, bei einem Spiel zwei Großmeister und einen Nervenzusammenbrach zu erleben.“ Hermanold sah sie nervös an und schenkte uns ein. Er wußte nicht, ob sie ihn auf den Arm nahm. Ich wußte es. Seine Bemerkung, Fiske gleich am Anfang auszuschalten, hatte ihre Wirkung nicht verfehlt.
„Vielleicht bleibe ich nicht“, fuhr sie lächelnd fort und trank einen Schluck Champagner. „Ich wollte ohnehin gehen, sobald Kat einen Platz hat...“
„Oh, Sie müssen bleiben!“ rief Hermanold und sah sie erschrocken an. „Ich meine, ich fände es wirklich schade für Sie, wenn Sie dieses Spiel nicht erleben. Es ist das Spiel des Jahrhunderts.“
„Und die Reporter, die Sie angerufen haben, wären enttäuscht, wenn sie mich nicht hier finden, wie Sie ihnen versprochen haben, nicht wahr, lieber John?“ Sie trank ihren Champagner, während Hermanold rosarot anlief.
Jetzt hatte ich meine Chance und fragte: „War der Mann, den ich oben gesehen habe, Fiske?“
„Im Spielzimmer?“ fragte Hermanold beunruhigt. „Ich hoffe nicht. Er soll sich vor dem Spiel ausruhen.“
„Wer es auch war, er hat sich merkwürdig verhalten“, sagte ich. „Er kam herein und gab den Arbeitern Anweisung, alles hin und her zu Schieben...“
„Ach du liebe Zeit!“ stöhnte Hermanold. „Das muß Fiske gewesen sein. Als ich das letzte Mal mit ihm zu tun hatte, bestand er darauf, daß jedesmal, wenn eine Figur geschlagen wurde, ein Zuschauer oder ein Stuhl aus dem Saal geschafft werden mußte. ‘Das stellt mein Gefühl von Ordnung und Balance wieder her’, sagte er. Außerdem haßt er Frauen. Er will nicht, daß Frauen unter den Zuschauern sind, wenn er spielt...“ Hermanold tätschelte Lilys Hand, aber sie zog sie weg.
„Vielleicht hat er mich deshalb aufgefordert zu gehen“, bemerkte ich.
„Er hat Sie aufgefordert zu gehen?“ wiederholte Hermanold. „Also dazu ist er wirklich nicht berechtigt. Ich werde vor dem Spiel noch mit ihm sprechen. Er muß begreifen, daß es nicht so weitergehen kann wie früher, als er noch ein Star war. Er hat seit fünfzehn Jahren an keinem großen Turnier mehr teilgenommen.“
„Fünfzehn Jahre?“ fragte ich. „Dann muß er als Zwölfjähriger aufgehört haben zu spielen. Der Mann, den ich gesehen habe,
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