Katrin Sandmann 01 - Schattenriss
auf den Klingelknopf drückte. Während sie wartete, beobachtete sie einen Mann, der seinen Hund auf der Grünfläche vor den Häusern ausführte. Das Tier schnüffelte an einer leeren Bierdose und sein Herrchen blickte verstohlen zu den Fenstern der ersten Etage von Haus Nummer dreiundfünfzig.
Es dauerte recht lange, bis der Türöffner summte. Katrin stieg die Treppe hinauf. Dieter Arnold öffnete die Tür nur einen Spalt breit und äugte misstrauisch hinaus. Dann lächelte er erleichtert.
„Ach, Sie sind es.“
Katrin reichte ihm die Tüte. „Ich wollte nur schnell die Sachen vorbeibringen.“
„Kommen Sie doch eben rein.“ Er legte die Tüte auf den Boden hinter der Tür. „Es sei denn, Sie haben vielleicht Angst vor mir.“ Seine Stimme klang mit einem Mal bitter und verletzt.
„Angst?“
„Die Polizei glaubt offensichtlich, dass ich …“ Er sprach nicht weiter, hielt sich die Hand vor den Mund und stieß einen gequälten Laut aus. „Als könnte ich meinem eigenen Kind so etwas antun“, flüsterte er dann.
Katrin folgte ihm ins Wohnzimmer. Ein scharfer Geruch hing in der Luft. In einem Fach in der Schrankwand entdeckte Katrin ein gelbes Fläschchen Möbelpolitur. Daneben lag ein fleckiger, grauer Lappen. Dieter Arnold setzte sich auf die Couch. Seine Bewegungen waren schwerfällig. Dann sah er Katrin an. Sein Blick war müde. Er sah aus als sei er über Nacht um zehn Jahre gealtert. Er hatte dunkle Ringe um die Augen und sein Hemd wirkte unsauber und zerknittert.
„Meine Frau hat sich hingelegt. Sie hat eine Tablette genommen. Das ist alles zu viel für sie.“ Er machte eine kurze Pause und strich nervös mit den Fingern über die Tischplatte. Dann fuhr er fort. „Um acht Uhr heute Morgen haben sie geschellt. Dann sind sie mit sechs Leuten reingestürmt und haben die ganze Wohnung durchwühlt. Danach haben sie diese Fragen gestellt. Der Kommissar, Halverstett heißt er, wollte lauter solche merkwürdigen Sachen wissen. Ob ich Tamara manchmal geschlagen hätte, und ob ich, ob ich …“ Seine Stimme erstarb erneut. „Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass man sein Kind verliert. Warum quälen sie einen mit solchen Verdächtigungen?“ Katrin starrte auf die Plastiknelken auf dem Tisch. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Dann gab sie zu bedenken:
„Vermutlich geht es nicht anders. Bei einem gewaltsamen Tod müssen sie jede Möglichkeit in Erwägung ziehen. Es muss schrecklich für Sie sein.“
Dieter Arnold nickte. „Und jetzt haben sie sich vermutlich den Jungen vorgeknöpft. Die sollen lieber mal ihre Verbrecherkartei durchsehen anstatt die Angehörigen unnötig zu quälen. Hier in der Stadt laufen doch vermutlich jede Menge Perverse rum, und einer davon, hat meine Tamara umgebracht.“
„Was meinen Sie mit sie haben sich den Jungen vorgeknöpft? Welchen Jungen?“
„Oh, Timm natürlich. Wie heißt er noch weiter? Timm Meinardt . Tamaras Freund. Ein netter Junge.“
„Tamaras Freund?“ Irgendwie passte ein Freund nicht in das Bild, das Katrin sich von Tamara gemacht hatte.
„Ja. Sie kannten sich aus der Schule. Ich glaube er war eine Stufe über ihr. Hat sie ein paar Mal hier abgeholt.“
Dieter Arnold bot Katrin einen Kaffee an, aber sie lehnte ab. Sie wollte so schnell wie möglich wieder gehen. Der beißende Gestank, der aus dem grauen Lappen strömte, schnürte ihr die Kehle zu. Sie brauchte dringend frische Luft. Als sie durch die düstere Diele ging schielte sie unauffällig zu der Tür, hinter der das Schlafzimmer liegen musste. Wieder hatte sie dieses eigenartige Gefühl, dieses Bedürfnis, die fremde Frau, die hinter dieser Tür im Bett lag, trösten und vor irgendetwas beschützen zu müssen. Eine Sekunde lang sah sie die andere Frau, Melanies Mutter, in dem abscheulichen schwarzen Rüschenrock vor dem offenen Grab stehen und ihr Magen krampfte sich zusammen.
Als sie auf die Straße trat atmete sie tief durch. Roberta hatte Recht. Diese ganze Geschichte hatte nichts mit ihr zu tun und sie sollte die Finger davon lassen. Trotzdem beschloss sie, am Nachmittag im Telefonbuch nachzusehen, wie viele Meinardts es gab. Nur für alle Fälle.
Sylvia Arnold starrte durch das Fenster auf die Straße. Sie beobachtete wie die junge Frau – wie hieß sie noch gleich? – Katrin, Katrin Sandmann, wie diese Katrin Sandmann in ihr Auto stieg. Sie bemerkte das Handtuch auf dem Fahrersitz. Grün, gelb und blau gestreift. Warum hat jemand ein Handtuch auf dem Autositz
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