Katrin Sandmann 01 - Schattenriss
die die Polizei nicht auch hatte. Wozu sollte der Mörder ihr also drohen, falls es ihn überhaupt gab? Das machte keinen Sinn. Es stand ja noch nicht einmal fest, dass es sich bei Tamaras Tod tatsächlich um ein Verbrechen handelte.
Die Stimme war ihr seltsam bekannt vorgekommen. Katrin war fast sicher, sie in den letzten Tagen schon einmal gehört zu haben. Der Anrufer hatte sie gedämpft, wahrscheinlich mit einem Tuch vor dem Mund, aber der Tonfall war ihr vertraut erschienen. Wieder und wieder ging sie im Kopf alle Personen durch, mit denen sie in der vergangenen Woche gesprochen hatte, aber es befand sich niemand darunter, dem sie so etwas zutraute.
Wer weiß, möglicherweise war es sogar ihr Vater gewesen, der auf Umwegen Wind von der Sache bekommen hatte und ihr einen Schreck einjagen wollte. Er liebte solche kleine Gemeinheiten. Als sie ein Kind war, hatte er sie manchmal zu Tode erschreckt mit seinen groben Scherzen. Sie erinnerte sich noch genau an eine eisige Nacht im Januar. Damals war sie gerade sieben Jahre alt. Sie lag im Bett und lauschte dem Wind, der flüsternd ums Haus schlich. Plötzlich öffnete sich die Zimmertür und ihr Vater kam an ihr Bett geschlichen. Er wisperte ihr zu, dass sie ganz schnell und leise das Haus verlassen müssten, da ein Einbrecher eben in den Keller eingestiegen sei. Er nahm sie auf den Arm und stahl sich lautlos in den Flur. Ihr schlug das Herz bis zum Hals. Noch nie in ihrem Leben hatte sie solche Angst gehabt. Trotzdem fühlte sie sich sicher in seinen Armen. Am Treppenabsatz erblickte sie den Schatten einer Gestalt und fuhr entsetzt zusammen.
In diesem Augenblick kam Gott sei Dank ihre Mutter laut schwatzend aus dem Wohnzimmer und brach den Bann. Katrin stieß einen gellenden Schrei aus, stürzte sich voller Wut auf ihren Vater und hämmerte mit den Fäusten auf ihn ein. Dieser lachte so ansteckend, dass ihr Zorn rasch verflog und sie ebenfalls herausplatzte. Der unheimliche Schatten stellte sich als eine verzerrte Widerspiegelung des Schirmständers heraus. Dann setzten sie sich nebeneinander auf die Treppe. Ihr Vater erzählte ihr, dass er selbst einen Schreck bekommen habe, als er die gespenstische Silhouette zufällig entdeckte, und das habe ihn auf die Idee gebracht, ihr diesen Streich zu spielen. Katrins Mutter fand das alles gar nicht witzig. Sie regte sich schrecklich auf.
„Wie kannst du dem Kind nur so was antun?! Guck sie dir an. Sie ist ganz blass.“
Aber ihr Vater winkte immer noch kichernd ab.
„Irgendwer muss sie doch ein wenig abhärten. So wie du sie verwöhnst. Sonst hängt sie für alle Zeiten an deinem Rockzipfel.“
Katrin lief ein Schauder über den Rücken als sie sich an den Schrecken jener Nacht erinnerte. Ihr Vater hatte immer irgendwie versucht, sie abzuhärten, gegen das, was er das wirkliche Leben nannte. Vermutlich hätte er gern einen Sohn gehabt, und das war seine Art, seine Enttäuschung zu kompensieren. Sicherlich steckte er auch irgendwie hinter diesem Anruf. Das sähe ihm wirklich ähnlich.
Oder vielleicht hatte dieser nervige Journalist ja auch etwas damit zu tun? Katrin hatte noch immer das Gefühl, die Stimme am Telefon erst kürzlich gehört zu haben. Diesem Schreiberling würde sie solche Grobheiten auch zutrauen. Wahrscheinlich fürchtete er Konkurrenz, hatte Angst, sie würde vor ihm auf eine interessante Spur stoßen. Oder er heckte einfach gern gemeine Späße aus. Katrin zuckte die Achseln. Wer auch immer sie da ärgern oder einschüchtern wollte, jetzt würde sie erst recht weiter machen.
Entschlossen wählte sie die erste Nummer. Meinhardt , A., Kopernikusstraße. Fehlanzeige. Eine alleinstehende , ältere Dame. Bei Nummer zwei meldete sich niemand. Meinhardt , Gerd, Benrather Schloßallee , hatte den Anrufbeantworter eingeschaltet. Die nächsten drei Meinhardts wussten nichts von einem Timm, aber dann wurde sie fündig.
„Timm ist nicht zu Hause“, erklärte seine Mutter. „Wer ist denn da bitte?“
„Hier ist Katrin. Ich bin auch vom Schiller-Gymnasium.“ Sie hatte beschlossen vorzutäuschen, eine Klassenkameradin von Timm zu sein. So wie sie sich ausgedrückt hatte, war es nicht einmal eine Lüge.
„Timm ist im Probenraum. Mit der Band. Sie hatten schon um elf Schule aus. Ich denke, er ist heute Nachmittag gegen vier zurück. Du kannst es ja dann noch mal versuchen.“
„Vielen Dank. Vielleicht fahre ich ja auch eben hin.“
„Weißt du denn, wo der Probenraum ist?“
„Nur so ungefähr. Ich
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