Katrin Sandmann 01 - Schattenriss
äußerst kreativ und nicht immer geschmackssicher. Er wusste, wovon er sprach. Seine eigenen Kinder hatten ähnliche Phasen durchgemacht. Aber als er heute das Zimmer erneut betrat, hatte er gleich bemerkt, dass jemand den Gürtel weggeräumt hatte. Und das hatte seinen Argwohn erregt.
Halverstett blickte auf seine Kollegin. Rita Schmitt hatte in der Zwischenzeit weiter den Inhalt des Kartons durchsucht, aber offensichtlich nichts Interessantes gefunden. Lustlos griff sie ein neues Stück Papier aus dem Haufen und glättete es auf der Schreibtischplatte. Ihre Augen weiteten sich. Dann hielt sie es ihrem Kollegen schweigend hin. Halverstett nahm den kleinen, weißen Zettel in die Hand. Er las die zierliche, enge Handschrift: Südfriedhof. Eingang Südring. Neun Uhr. Nur diese fünf Worte, aber sie genügten. Jetzt stand fest, dass Tamara am Montagabend eine Verabredung gehabt hatte.
Katrin ließ ihren Blick über die blank geputzte Arbeitsfläche, das frisch gewienerte Spülbecken und die penibel aufgeräumten Regale schweifen. Die Dunkelkammer sah aus, als wäre sie gerade eben für ein Do-it-yourself-Handbuch für Hobbyfotografen abgelichtet worden. Die Kanister und Flaschen mit Entwickler und Fixierer waren säuberlich im Regal aufgereiht. Die Messbecher befanden sich der Größe nach sortiert neben dem Spülbecken und das Vergrößerungsgerät stand ordentlich auf der Arbeitsplatte. Das Fotopapier lag im Karton; Kamera, Stativ, Objektive und Filter waren im Schrank verstaut.
Zufrieden schaltete sie das Licht aus und ging ins Wohnzimmer. Sie setzte sich vorsichtig in den alten Schaukelstuhl und wiegte sich sacht hin und her. Jetzt fehlte nur noch ein vernünftiger Auftrag. Irgendeine anspruchsvolle Arbeit, bei der sie endlich einmal wirklich zeigen durfte, was sie konnte. Vielleicht sollte sie doch noch mal mit Robertas Mann Peter sprechen. Er hatte angeboten, ihr eine eigene Homepage zu entwerfen, auf der sie um Kunden werben und ihre Bilder im Internet anbieten könnte. Auf diese Art käme sie vielleicht auch an interessantere Aufträge. Bisher hatte Katrin kein richtiges Interesse gehabt. Die Künstlerin in ihr sträubte sich gegen solche kommerziellen Vermarktungsstrategien. Sie besaß zwar auch eine Digitalkamera und die Software um Fotos am Computer zu bearbeiten. Es machte ihr Spaß, gelegentlich damit zu experimentieren und auszuprobieren, was sich mit dieser neuen Technik alles machen ließ. Trotzdem war sie im Grunde ihres Herzens eine altmodische Handwerkerin, die am liebsten mit ihrer schlichten Spiegelreflexkamera und einer handvoll Schwarzweißfilmen loszog.
Das Telefon klingelte.
„Katrin Sandmann?“ Die Stimme klang eigenartig gedämpft.
„Wer ist da, bitte?“
„Sie sollten sich da raushalten. Das ist nichts für Sie. Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten.“
Katrin schluckte.
„Wo raushalten? Ich weiß nicht, wovon Sie reden.“
„Das wissen Sie ganz genau. Das tote Mädchen. Lassen Sie die Finger davon.“
„Wer sind Sie überhaupt? Was soll dieser Anruf? Wollen Sie mich einschüchtern?“
„Ich meine es gut mit Ihnen. Halten Sie sich da raus und es wird Ihnen nichts geschehen.“
Es klickte und die Verbindung war unterbrochen. Katrin legte den Hörer ganz langsam zurück. Ihr Arm bewegte sich mechanisch. Ihre Beine waren bleischwer. Ihre Knie zitterten. Ihr Herz raste. Sie schlich wie in Zeitlupe zur Couch und setzte sich vorsichtig auf die Kante. Gedanken jagten ziellos durch ihr Hirn.
Das konnte doch gar nicht wahr sein. Sie musste sich getäuscht haben. Bestimmt hatte sie sich verhört. Manchmal hatte sie einfach zu viel Phantasie. Sie wusste doch überhaupt nichts. Wie konnte sie dem Mörder im Weg sein? Dem Mörder. Mörder. Das Wort raste durch ihren Kopf und hallte an ihrer Schädeldecke wieder. Mörder. Mörder. Mörder.
4
Katrin saß im Schneidersitz auf dem Wohnzimmerboden. Das Telefon stand neben ihr. Auf ihrem Schoß lag das Telefonbuch. Meier, Meilsen , Meinardt . Sie stöhnte, als sie die lange Spalte mit den Namen sah, aber sie griff entschlossen zum Hörer.
Sie hatte die letzte halbe Stunde wie gelähmt auf der Couch gesessen und versucht, den unheimlichen Anruf zu begreifen. Mit der Zeit kam ihr das Gespräch immer merkwürdiger und irrealer vor, und am Schluss glaubte sie beinahe, sich alles eingebildet zu haben. Sie hatte beschlossen, das Ganze als dummen Scherz abzutun. Sie war keine Zeugin und sie besaß keine wichtigen Informationen,
Weitere Kostenlose Bücher