Katrin Sandmann 01 - Schattenriss
Strauß weißer Lilien.
Katrin verschränkte die Arme vor der Brust und rieb sich mit den Handflächen über die fröstelnden Oberarme. Noch vor kurzem hatte dieser Ort so friedlich und still ausgesehen. Kaum zu glauben, dass sie selbst vor drei Tagen hier im feuchten Gras gekniet hatte, nur wenige Stunden bevor an der gleichen Stelle ein junges Mädchen gewaltsam zu Tode gekommen war.
„Vielleicht versuche ich auch nur zu begreifen, was geschehen ist“, antwortete sie leise.
Kabritzky war neben sie getreten und sie musterten schweigend das aufgewühlte Stück Erde. Katrin versuchte, die beklemmenden Gedanken zu unterdrücken, die in ihr aufstiegen, und sich stattdessen auf die Fakten zu konzentrieren.
„Und? Gibt’s irgendwas Neues?“ Sie sprach so beiläufig wie möglich. Sie wollte noch einmal seine Stimme hören. Vielleicht konnte sie feststellen, ob er der anonyme Anrufer war. Außerdem rückte er ja womöglich wirklich ein paar interessante Informationen raus.
Manfred Kabritzky schüttelte den Kopf. „Die Polizei ist nach wie vor nicht sicher, ob es Mord oder Selbstmord war. Das Mädchen hat sich kurz bevor sie starb mit jemandem getroffen. Soviel scheint festzustehen. Womöglich war dieser Typ sogar hier auf dem Friedhof mit ihr. Aber ob er auch was mit ihrem Tod zu tun hat, ist alles andere als klar.“
„Wo liegt das Problem?“
„Es gibt keine Kampfspuren. Tamara hatte aufgeschnittene Pulsadern, und daran ist sie auch gestorben. Aber Pulsadern aufschneiden dauert ein paar Sekunden. Und es erfordert Körperkontakt. Das ist nicht wie erschießen. Abdrücken und das war’s. Es ist ein bisschen schwer vorstellbar, dass sie einfach dagesessen und zugesehen hat, während jemand sie aufschlitzte.“
„Vielleicht war sie bewusstlos? Was ist mit dem Engel? Wenn der Täter ihr damit auf den Schädel geschlagen hat, dann …“
„Fehlanzeige. Keine Kopfverletzung. Keine Rückstände von Medikamenten oder Drogen im Blut.“
„Also war es doch Selbstmord?“
„Sieht so aus.“
Manfred Kabritzky drehte sich zu ihr um. Seine Bewegung war so abrupt, als wolle er einen unangenehmen Gedanken abschütteln.
„Ich muss los. Begleiten Sie mich zum Ausgang?“
Sie nickte nur. Während sie ihre Schritte Richtung Ausgang lenkten, studierte Katrin unauffällig die Gräber und suchte nach einer Spur von dem Engel. Plötzlich blieb sie stehen und starrte auf einen kleinen, weißen Marmorstein. Sie schluckte fassungslos. Ihre Kehle fühlte sich mit einem Mal ganz trocken an, so als hätte sie einen Klumpen Erde verschluckt, und ihre Augen brannten. Einen Moment lang stand sie wie gelähmt vor der unscheinbaren Grabstelle. Dann drehte sie sich langsam um und maß mit den Augen das Stück Weg, das sie bereits gegangen war. Es war nicht lang, vielleicht zehn oder zwanzig Meter. Sie befand sich noch immer in Sichtweite des anderen Grabes, auf dem Tamara vor drei Tagen gestorben war. Was für ein makabrer Zufall.
Der Journalist, der mit großen, eiligen Schritten bereits ein paar Meter weitergelaufen war, bemerkte mit einem Mal, dass sie nicht mehr mitkam. Er drehte sich um und ging zu ihr zurück.
„Irgendwas gefunden?“
Sie schüttelte stumm den Kopf, während ihr Blick wie gebannt auf dem weißen Grabstein haftete. Manfred Kabritzky las die Aufschrift. Seine Stimme hallte in Katrins Ohren wie ein Echo aus der Vergangenheit:
„Melanie Kleinert. 10.1.1976 – 22.11.1992.“ Er schwieg einen Augenblick. „Sie ist ungefähr genauso alt geworden wie Tamara“, bemerkte er schließlich. Er wandte sich ab und fixierte Katrin mit forschendem Blick. Dann griff er nach ihrem Arm und führte sie behutsam weiter.
„Nun nehmen Sie sich das Ganze mal nicht zu sehr zu Herzen. Dieses Mädchen war vermutlich krank, oder sie hatte einen Unfall. So viele Gewaltverbrechen geschehen hier nicht. Wir sind schließlich in Düsseldorf und nicht in Chicago.“
Seine gut gemeinten Worte prallten ungehört an Katrin ab. Sie ging wie betäubt neben ihm her. Verzweifelt rang sie mit den Bildern, die aus den finstersten Kammern ihres Gedächtnisses über sie hereinbrachen. Sie war damals auf der Beerdigung gewesen. An jenem schrecklichen Morgen schneite es und sie fror erbärmlich in dem viel zu dünnen, schwarzen Kleid. Sie hatte beobachtet, wie zwei Eichhörnchen sich um eine Haselnuss stritten, während der Priester von der Gnade Gottes sprach. Und danach war plötzlich alles anders gewesen, so als hätte sie an jenem Tag
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