Katrin Sandmann 01 - Schattenriss
zusammen mit der Hand voll Erde ihre Kindheit in das offene Grab geworfen, und als läge sie nun dort in der ewigen Dunkelheit verscharrt. Noch Monate später schreckte sie manchmal mitten in der Nacht auf und sah Melanies Mutter vor sich stehen, in dem hässlichen Rüschenrock und mit Schneeflocken im Haar.
Sie war nur dieses eine Mal an Melanies Grab gewesen. Nach diesem Tag war sie nicht mehr dorthin zurückgekehrt. Sie hätte diese Stelle nie wiedergefunden , wenn sie nicht heute zufällig darauf gestoßen wäre.
Manfred Kabritzky brachte sie zu ihrem Wagen und sie war zu verwirrt um sich zu wundern, woher er wusste, welches ihr Auto war.
„Wie wär es denn heute Abend mit Essen? Sie sehen so aus, als könnten Sie ein wenig Gesellschaft vertragen. Oder haben Sie wieder etwas Besseres vor?“
Katrin lächelte schwach. Offensichtlich war dieser Zeitungstyp ja doch ganz nett. Zumindest, wenn man sich an seine selbstzufriedene Art gewöhnt hatte.
„Ich habe tatsächlich etwas vor. Ich bringe die Kinder meiner Freundin ins Bett und wache über ihren Schlaf, damit sie mit ihrer Mutter ins Theater gehen kann.“
„Wie schön für Sie. Ist zwar nicht unbedingt nervenschonender aber mit Sicherheit ungefährlicher als Mörder zu jagen.“
Noch bevor Katrin etwas erwidern konnte, war er in einen dunkelgrünen Landrover gesprungen, der nur wenige Meter von ihrem eigenen Wagen entfernt geparkt war, und spurtete mit quietschenden Reifen davon. Sie blickte ihm irritiert nach. Sie wusste immer weniger, ob sie ihn mögen oder verabscheuen sollte. Aber sie war sich ziemlich sicher, dass er nicht der Mann war, der heute Morgen bei ihr angerufen hatte.
Katrin stieg nicht sofort in ihren Wagen. Stattdessen ging sie quer über den Parkplatz zu der kleinen Friedhofsgärtnerei. Nach kurzem Zögern kaufte sie einen Strauß bunter Sommerblumen, Margeriten, Rittersporn und roten Mohn. Dann kehrte sie zurück auf den Friedhof.
Es war bereits Viertel nach sechs, als Katrin schließlich ihren Golf anließ, und daher beschloss sie, sofort zu Roberta zu fahren. Die Straßen waren voll und sie kam nur recht langsam durch die Stadt. Roberta wohnte auf der Grafenberger Allee, unweit des Schiller-Gymnasiums. Katrin musste ein paar Mal um den Häuserblock fahren, bis sie endlich einen Parkplatz fand.
David und Johanna stürmten ihr im Treppenhaus entgegen. Sie hätten sie am liebsten gleich ins Kinderzimmer gezerrt. Aber sie vertröstete die Kinder auf später. Roberta stand im Badezimmer vor dem Spiegel und kämpfte mit ihren dünnen, blonden Strähnen.
„Ist das nicht schrecklich?“ Sie blickte genervt in den Spiegel. „Ich sehe aus wie ein gerupftes Huhn.“
Katrin lachte. „Du siehst sehr hübsch aus und das weißt du auch ganz genau.“
Roberta drehte sich um sah sie an. „Wenn du es sagst.“ Dann knipste sie das Licht aus. „Die Kinder haben bereits gegessen. Bitte mach ihnen um halb acht das Licht aus. Nicht später. Sonst muss ich mir wieder wochenlang anhören: Bei Tante Katrin dürfen wir aber länger aufbleiben. Die ist viel lieber als du.“ Sie sprach mit erhöhter Stimme und imitierte den Tonfall eines beleidigten Kindes. Als sie Katrins betroffenes Gesicht sah, lachte sie. „War nur ein Scherz, aber lass es nicht zu spät werden. Johanna hat morgen früh Schule.“
Gegen acht Uhr, nach drei Runden Mensch-ärgere-dich-nicht und zwei Kapiteln aus dem Räuber Hotzenplotz hatte Katrin die drei endlich im Bett. Tommy schlief sofort erschöpft ein. Johanna musste noch zweimal dringend auf die Toilette und David hatte um zwanzig nach acht plötzlich fürchterlichen Durst. Um halb neun war dann endlich alles still. Katrin stellte den Fernseher an. Jetzt konnte sie Casablanca doch noch fast von Anfang an gucken.
In der Werbepause holte sie sich Saft in der Küche. Während sie im Schrank nach einem Glas suchte, musste sie wieder daran denken, wie sehr ihr der unvermittelte Anblick von Melanies Grab in die Glieder gefahren war. Sie hatte sich eingebildet, die Schuldgefühle von damals erfolgreich verdrängt zu haben, bis die Entdeckung heute sie eines Besseren belehrte. Sie spürte wieder das Gefühl im Magen, den Druck, die Übelkeit und die Angst, die sie überfallen hatte, als sie den Körper an jenem Morgen vor zwölf Jahren dort unten auf dem Schulhof liegen sah. So klein und zusammengekrümmt, so unnatürlich verdreht. Melanie war mit niemandem besonders eng befreundet gewesen, aber mit Katrin hatte sie sich hin
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