Katrin Sandmann 01 - Schattenriss
und wieder nachmittags getroffen. Warum war ihr nicht aufgefallen, dass etwas nicht stimmte? Warum hatte sie die Anzeichen übersehen? Warum?
Und dann war auch noch das mit Melanies Mutter passiert. Sie hatte sich immer mehr zurückgezogen und sich verstohlen von der Welt verabschiedet. Nach dem Tod ihrer Tochter hatte sie angefangen, Tabletten zu nehmen. Zunächst nur ein Beruhigungsmittel, um den Schmerz zu dämpfen und die Beerdigung durchzustehen. Das war doch verständlich. Danach hatte sie die Pillen gebraucht, um irgendwie durch die ersten Wochen zu kommen. Und dann war es einfach so weitergegangen. Acht Monate lang hatte sie sich mit Tabletten vollgestopft , Beruhigungsmittel, Schlafmittel, alles, an das sie irgendwie herankommen konnte, bis ihr Mann sie eines Morgens im Badezimmer fand. Sie hatte eine Überdosis geschluckt und lag leblos auf den kalten Fliesen.
Katrin bemerkte anhand der Geräusche aus dem Nebenraum, dass der Film bereits wieder angefangen hatte. Sie versuchte, die schmerzvollen Erinnerungen abzuschütteln, griff nach einem Glas und dem Saftpaket und ging zurück ins Wohnzimmer.
Roberta kam um Viertel vor elf aus dem Theater zurück. Sie fand Katrin schlafend auf der Wohnzimmercouch. Einen Augenblick lang überlegte sie, ob sie ihre Freundin wecken sollte, aber dann holte sie eine Wolldecke aus dem Einbauschrank im Flur und legte sie vorsichtig über sie. Auf Zehenspitzen schlich sie durch das Zimmer und schaltete den Fernseher und das Licht aus. Dann schloss sie leise die Tür hinter sich.
Sylvia griff nach einem Laken. Mit routinierten Handbewegungen nahm sie die äußeren Ecken und schob sie unter die Klammern. Dann schlug sie mit der flachen Hand auf den dicken, schwarzen Knopf. Während die Mangel das große, feuchte Tuch zur Seite fuhr und dann über die erste Walze legte, wandte die Frau sich bereits ab, um das nächste Laken aus dem Metallcontainer zu nehmen, der an ihrer linken Seite stand. Sylvia arbeitete mechanisch. Ihre Bewegungen waren trotz ihrer behäbigen Figur fließend und elastisch. Die beiden anderen Frauen, die mit ihr an der Mangel standen, unterhielten sich angeregt auf Griechisch. Zwischendurch wurden sie lauter, erhoben sie ihre Stimmen und begannen, aufgeregt aufeinander einzuschimpfen. Dann hörten sie auf zu arbeiten, unterbrachen die stupiden Bewegungsabläufe, um wild mit den Händen zu gestikulieren. Aber bevor die Diskussion in einen ernsthaften Streit ausartete, beruhigten sie sich wieder und widmeten sich erneut ihrer Arbeit. Sylvia bekam von all dem kaum etwas mit. Sie stand allein an der Maschine. Zwischen ihr und dem Rest der Welt war eine solide, schalldichte Wand.
Ihre Kolleginnen waren sehr mitfühlend gewesen. Sie hatten versucht, sie nach Hause zu schicken, als sie heute Morgen in der Wäscherei erschienen war.
„Meine Güte, Sylvia, du kannst doch jetzt nicht arbeiten kommen. Geh wieder nach Hause. Schrecklich, das mit Tamara. Es tut uns so Leid.“
Aber sie hatte darauf bestanden, zu bleiben. Sie konnte nicht mehr zu Hause herumsitzen. Bei jedem Geräusch bildete sie sich ein, Tamara käme nach Hause. Stundenlang stand sie am Fenster und hielt nach ihr Ausschau. Sie starrte angestrengt auf die Straße, obwohl sie genau wusste, dass sie nie wieder kommen würde, obwohl sie das blasse, versteinerte Gesicht in der Gerichtsmedizin gesehen hatte, und den leblosen Körper; und obwohl dieser Anblick sie verfolgte, sie heimsuchte, jedes Mal wenn sie versuchte, an etwas Anderes zu denken.
Jetzt stand sie an der Maschine und die Routine der Arbeit beruhigte sie. Sie steckte ihre Hände in den Container mit den sauberen, weißen Tüchern und wenn sie sich bemühte, ihre Gedanken dabei auszuschalten, und sich nur auf ihre Bewegungen konzentrierte, erschien ihr die Welt sekundenweise fast wieder normal. Ihre Kolleginnen hatten sie aufmerksam umsorgt, ihr Kaffee und Kekse gebracht. Aber als sie merkten, dass Sylvia ihre Freundlichkeit eher als Belästigung empfand, zogen sie sich zurück und wandten sich wieder ihren eigenen Angelegenheiten zu. Sylvia war ihnen dankbar dafür.
Dieter war entsetzt gewesen, als sie ihm gestern Abend gesagt hatte, dass sie am nächsten Tag wieder arbeiten wolle.
„Bist du wahnsinnig? Dazu bist du doch gar nicht in der Lage. Du bleibst schön zu Hause und schonst dich.“
Sie hatte aus dem Fenster gesehen und geantwortet: „Ich bleibe nicht mehr länger zu Hause. Ich gehe morgen arbeiten. Ich halte es hier nicht mehr
Weitere Kostenlose Bücher