Katrin Sandmann 02 - Kinderspiel
niemals trog.
Obwohl er der Presse offiziell nichts darüber erzählt hatte, so hatte Halverstett ihm gegenüber jedoch angedeutet, dass es da ein Foto gab, das Claudia Heinrich, Erik Stein und Andreas Schäfer zusammen zeigte, und zwar als etwa Zehnjährige. Er hatte noch ein bisschen bohren müssen, um zu erfahren, dass auf diesem Bild noch zwei weitere Kinder zu sehen waren, Kai Rutkowski , der gestern nur knapp einem Mordanschlag entgangen war, und Hans Meister. Letzteres hatte ihn schockiert. Niemals hatte er erwartet, dem Namen seines harmlosen, unbedarften Kollegen aus der Sportredaktion einmal im Zusammenhang mit einer Mordermittlung zu begegnen. So wie es aussah, war er im Augenblick sogar der Hauptverdächtige.
Manfred war sofort der Abend eingefallen, als er mit Katrin noch spät in die Redaktion gekommen war, um seine vergessene Tasche zu holen. Er erinnerte sich an Hansis merkwürdiges Verhalten und Katrins spontanen Verdacht, dass mit diesem Mann etwas nicht stimme. Er dachte an Katrin. Ob sie das mit dem Foto wusste? Er stellte sich ihr triumphierendes Grinsen vor, wenn sie herausfand, dass sie Recht behalten hatte. Aber dann fiel ihm ein, dass er wohl kaum dabei sein würde, wenn sie es erfuhr, und er beugte sich rasch wieder über die Zeitung, die er gerade studierte. Er war mittlerweile im Juli 1977.
Eine halbe Stunde später passierte es. Er hätte den Artikel beinahe überschlagen. Die Ausgabe war vom zwanzigsten Oktober und gespickt mit Berichten über den Kampf gegen den linken Terrorismus. Am Tag zuvor hatte man in Mühlhausen Hanns Martin Schleyer tot im Kofferraum eines grünen Audi 100 gefunden.
Aber da war eine kleine Notiz im Lokalteil. Ein paar Zeilen nur, doch sie ließen alles in neuem Licht erscheinen. Vor allem die Frage, wer nun wirklich ein Motiv hatte, Amok zu laufen und nach fast dreißig Jahren drei Menschen zu töten, die damals noch Kinder waren.
19
Erna Fassbender starrte aus dem Fenster auf den Rasen. Bis vor wenigen Augenblicken hatten die Kinder hier noch gespielt. Claudia war dabei gewesen, Erik, Hansi und Andreas, oder war es Kai? Vor ein paar Minuten waren sie plötzlich davon gestürmt. Oder war das schon länger her? Erna seufzte. Man verlor jedes Gefühl für Zeit, wenn man allein am Küchentisch saß und sich auf ein schwieriges Strickmuster konzentrierte.
Erna blickte sich suchend um. Alles war still. Unheimlich still. Der Lärm der spielenden Kinder hatte etwas Beruhigendes gehabt, etwas Vertrautes. Er war ein Zeichen dafür gewesen, dass alles normal war. Die Stille war etwas Bedrohliches. Erna hatte gelernt, der Stille zu misstrauen. So wie jener angstvollen Stille zwischen dem Fliegeralarm und dem Motorengeräusch der Bomber.
In der Stille werden die Ängste plötzlich ganz groß. Der Alltag mit seinen beruhigenden Ritualen ist weit, weit weg, und wenn man nichts hört, sind die eigenen Gedanken entsetzlich laut.
Erna ging quer durch die Wohnung ins Schlafzimmer, dessen Fenster zur Straße hin lag. Sie spähte hinaus, und das beklemmende Gefühl, das sie beim Blick in den verlassenen Garten überkommen hatte, war wie weggeblasen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, auf dem Kirchenvorplatz, standen Gudrun Lange und Brigitte Wildmeister und schwatzten, die Frau des Küsters putzte Fenster, und jetzt trat Gerd Rutkowski aus der Tür drei Häuser weiter und ging mit eiligen Schritten auf den Fürstenplatz zu. Es war kurz vor sechs. Er hatte wohl heute Nachtschicht.
Erna Fassbender beobachtete eine Zeitlang das Treiben auf der Straße. Dann ging sie zurück in die Küche. Als sie gerade nach ihrem Strickzeug greifen wollte, hörte sie auch die Kinder plötzlich wieder. Sie stürmten die Kellertreppe hoch und preschten in den Garten. Erna sah, wie der pummelige Erik ungeschickt die Holunderbüsche hochkletterte und über die Mauer im Nachbargarten verschwand. Claudia verzog sich in die entgegengesetzte Richtung. Die anderen waren so schnell verschwunden, dass Erna nicht einmal genau gesehen hatte wohin. Sie lächelte. Die spielten sicher Verstecken. Sie setzte sich an den Küchentisch. Alles war in Ordnung. Die Stille hatte ihre Bedrohlichkeit verloren.
Klaus Halverstett trat ärgerlich ans Fenster und ließ seinen Blick über den Parkplatz vor dem Polizeipräsidium gleiten. Ein Beamter in Uniform führte einem Kollegen sein neues Motorrad vor, ein Mädchen turnte an der Schranke, die unbefugte Besucher fernhielt, während ihre Mutter
Weitere Kostenlose Bücher