Katrin Sandmann 02 - Kinderspiel
ihre Kraft zusammen. Dann stieß sie mit dem Ellbogen fest nach hinten. Einmal kurz und kräftig. Sie hörte einen unterdrückten Schrei. Der Mann rutschte zur Seite und rollte auf den Waldboden.
Sie war frei. Hastig rappelte sie sich auf und jagte über die Brücke den Waldweg hoch. Der Mann sprang ebenfalls auf. Er war ihr dicht auf den Fersen. Sie stolperte, fing sich wieder und raste weiter. Der Hang wurde uneben und steinig. Dann kam eine kleine Holzbrücke. Ihre Schritte hallten unnatürlich laut durch den Wald, während sie hinüberhechtete.
Sie raste weiter. Hinter sich hörte sie die Schritte ihres Verfolgers auf der Holzbrücke. Er war ganz nah. Ihr Atem ging keuchend, und ein Stechen fuhr bei jeder Bewegung durch ihren Brustkorb.
Auf halber Höhe stieß der Pfad auf einen anderen Wanderweg. Aber so weit kam Katrin nicht. Wenige Meter vor dem Abzweig blieb sie unvermittelt stehen und starrte auf einen Baum, dessen schwere Äste sich weit über den Weg erstreckten.
An einem dieser Äste hing ein Mann. Sein Körper war schlaff und leblos, die Augen starr, und die Zunge hing schief in seinem Mundwinkel.
Katrins Blick haftete wie gebannt auf dem Toten. Fassungslos sah sie ihn an. Ihr Herz raste. Es war der Mann, den sie hinter sich auf dem Waldweg vermutete hatte.
Es war Kai Rutkowski .
25
Erna Fassbender stieg bedächtig die Stufen hoch. Jeder Schritt kostete sie eine ungeheure Anstrengung, nicht nur, weil sie achtundsiebzig Jahre alt war, sondern auch, weil sie eine schwere Aufgabe vor sich hatte. Familie Rutkowski wohnte in der dritten Etage. Erna musste lange klingeln, bis Angelika ihr schließlich die Tür öffnete. Sie hielt ein halbvolles Glas mit einer durchsichtigen Flüssigkeit in der Hand und ihre Augen waren glasig. Erna seufzte.
»Angelika, ich muss mit dir reden«, sagte sie, noch leicht außer Atem von dem mühsamen Aufstieg.
Angelika runzelte verständnislos die Stirn.
»Es geht im Kai. Und um Martin.«
Angelika stieß einen unwilligen Laut aus und nahm einen Schluck aus dem Glas, das sie mit unsicherer Hand umklammerte. »Ich verstehe nicht«, antwortete sie mit schwerer Zunge. »Aber komm doch rein, Erna .« Sie trat zurück, um ihre Nachbarin hereinzulassen. »Auch einen ?« Sie schwenkte das Glas.
Erna folgte Angelika ins Wohnzimmer. Die Luft in der Wohnung war stickig und die Räume sahen verwahrlost aus. Auf dem Wohnzimmertisch standen unzählige benutzte Gläser, daneben eine leere und eine halbvolle Flasche mit billigem Schnaps. Neben der Couch ächzte ein Bügelbrett unter der Last der Wäschestücke, die sich in heillosem Durcheinander darauf türmten. Erna schob zwei Zeitschriften zur Seite und setzte sich. Angelika goss Schnaps in eins der benutzten Gläser und stellte es Erna hin. Dann ließ sie sich schwerfällig in den Sessel fallen. »Ich kann nicht mehr. Ich bin so kaputt«, stöhnte sie und griff nach der Flasche. Erna hielt ihren Arm fest. »Lass das und hör mir zu, bitte .«
Angelika starrte sie empört an. »Was soll das? Was ist denn los mit dir, Erna ?«
»Ich muss mit dir über deine Kinder sprechen, Angelika. Bitte versuch, mir zuzuhören .«
Angelika ließ den Arm sinken. Sie fiel in sich zusammen. Erna griff nach ihrer Hand. »Ich muss dir etwas erzählen. Ich hätte es schon vor Jahren tun sollen, aber ich hatte nicht den Mut. Es geht um Martin. Sein Tod war kein Unfall, zumindest nicht so, wie alle geglaubt haben .« Sie sah Angelika in die Augen, aber die starrte sie nur verständnislos an. Also fuhr sie fort. »Die anderen Kinder haben ihn getötet. Sie haben ihn in diesen Kühlschrank eingesperrt. Sie haben nicht gewusst, was sie tun. Sie hatten keine Ahnung, wie gefährlich das ist. Sie wollten ihn nicht töten. Es war ein dummes, folgenschweres Spiel. Ich habe nie jemandem davon erzählt. Es hätte ja keinem genützt; es hätte Martin nicht wieder lebendig gemacht .« Erna seufzte. »Ich dachte, ich hätte das Richtige getan, aber jetzt bin ich nicht mehr so sicher. Ich glaube, Kai hat die Wahrheit irgendwie herausgefunden, und jetzt bringt er die anderen der Reihe nach um. Ich fürchte, wir müssen die Polizei einschalten .«
Sie sah Angelika erwartungsvoll an, aber sie konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten. »Angelika, hast du gehört, was ich gesagt habe ?«
Angelika streckte ihre Hand nach der Flasche aus. »Wusstest du, dass ich einmal zwei kleine Jungen hatte ?« , fragte sie. »Kai und Martin. Martin ist gestorben, als er
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