KATZ oder Lügen haben schlanke Beine (German Edition)
im Nachthemd.
Am Bahnhof kaufte ich mir eine Wurstsemmel und einen Becher Kaffee. Es wurde belebter. Züge brachten die Pendler aus den Vororten in die Stadt, auf den Straßen wurde der Autoverkehr dichter. Zürich hatte jetzt das Nachthemd mit dem Business-Outfit vertauscht, wurde ernster und umtriebiger und auf eine sehr viel distanziertere Art attraktiv.
Ich hatte noch Zeit und schlenderte in Richtung Zürichsee. Der glänzte in der Morgensonne, als gäbe es dafür einen Schönheitspreis. Ich weiß nicht warum, aber für mich verleiht Wasser – egal ob als Fluss, Lagune oder See – einer Stadt immer Frische, Klarheit, Weite. Und erzeugt einen Hauch von Sehnsucht, weil es das Gebundensein an einen Ort mit der Illusion eines fernen, unbekannten Gestades verbindet. Selbst dann, wenn das andere Ufer in Sichtweite liegt.
Zürich gefiel mir. War auf eine nette Art adrett und auf eine beschauliche Art international. Ein bisschen neureich vielleicht und ein bisschen zu sehr von sich selbst überzeugt, wie alle verwöhnten Einzelkinder, aber eben auch recht sympathisch. Ich nahm mir vor wieder hierher zu kommen, irgendwann. Es gab überhaupt noch so vieles, was ich gerne tun wollte. Irgendwann. Ich musste nur aufpassen, dass mir meine Wünsche vor lauter »irgendwann« nicht irgendwann außer Reichweite gerieten.
Inzwischen zeigte meine Armbanduhr zehn nach neun. Wurde höchste Zeit, mich wieder um meinen Job zu kümmern. Ich klingelte Plümeli an, erinnerte ihn noch einmal an unseren Termin und sagte ihm, dass ich ihn gegen halb elf abholen würde.
Zurück im Hotel packte ich meine Sachen zusammen, checkte aus, ging in die Tiefgarage und verstaute die Reisetasche im Kofferraum meines Volvos. Wäre vielleicht nicht schlecht, dachte ich, noch ein paar Schritte zu laufen. Deshalb beschloss ich, den Wagen hier stehen zu lassen und zu Fuß zu gehen.
Nach dreimaligem Fragen infolge zweimaligen Verlaufens – also praktisch auf Anhieb – fand ich endlich das Haus mit Plümelis Kanzlei im zweiten Stock wieder. Der kleine Specht am Eingang zum Büro erkannte mich gleich wieder. Ich beschloss, ihn nicht zu behelligen und klopfte deshalb nicht mit seinem Schnabel, sondern mit meinen Knöcheln an die Tür.
Nach einer knappen halben Minute öffnete Plümeli. Und alle Befürchtungen, die ich insgeheim gehegt hatte, lösten sich in Luft auf: Er stand nicht in Sandalen und weißen Tennissocken vor mir, so wie gestern, sondern tadellos gekleidet in Nadelstreif inklusive Weste und dunkelblauer Krawatte, gewienerten, schwarzen Lederhalbschuhen, gekämmt, rasiert und parfümiert. Sein kugelrunder Bauch über den krummen Beinen verlieh ihm, derart salonfähig verpackt, im Gegensatz zu gestern etwas würdevoll Gravitätisches. In der linken Hand trug er eine Aktentasche, die so ähnlich war wie meine, wenn auch nicht schwarz, sondern dunkelbraun. Das Schärfste aber war sein Hut, eine altmodische, steife Melone, um die ihn jeder Banker in der Londoner City heiß und innig beneidet hätte.
»Sie sind schon startbereit, wunderbar!«, sagte ich erleichtert. »Was meinen Sie, gehen wir zu Fuß zum ›Baur au Lac‹? Ist so ein schöner Tag heute.«
»Sehr gerne«, sagte er. Dabei drückte er seine rechte Hand fest auf den Bauch, aber ich sah trotzdem deutlich, wie sie zitterte, und bereute meinen Vorschlag.
»Vielleicht sollten wir doch lieber ein Taxi rufen?«, schlug ich vor.
»Meine Hände zittern zwar, aber ich hatte auch nicht vor, auf den Händen zu gehen. Und meine Beine wiederum funktionieren noch tadellos, od’rr?« knurrte er zurück.
»Entschuldigen Sie, war wohl eine blöde Frage ...«
»Nicht blöde, Herr Katz, gar nicht blöde. Eher höflich und wie die meisten höflichen Fragen auch etwas überflüssig«, sagte Plümeli, jetzt deutlich versöhnlicher.
Ich nickte nur und schwieg. Schon aus Mangel an Gegenbeweisen.
Im «Baur au Lac« mussten wir erst einmal warten. Herr Dr. Lappé sei bereits informiert, wäre aber momentan leider noch beschäftigt, hieß es am Empfang. Der Gute hatte wahrscheinlich einfach verpennt, nahm ich an.
Wir setzten uns in die Lobby und tranken einen Kaffee, bis der Herr Dr. Lappé soweit wäre. Nach einer knappen Viertelstunde erschien ein Hotelpage und brachte uns zu ihm.
Jüjü residierte in einer »Deluxe Junior Suite«, natürlich Seeseite. Was auch sonst? Er hatte sich anscheinend in der Zwischenzeit mit seinem Schicksal abgefunden und empfing uns in seiner Suite so
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