KATZ oder Lügen haben schlanke Beine (German Edition)
noch, dass gleich eine schmissige italienische Volksweise angestimmt würde und ich wäre reif für meinen zweiten Magenbitter. Aber andererseits musste das ja nicht heißen, dass man hier nicht gut essen konnte.
Sonia bestellte sich »Tagliatelle mit Lachsstreifen«, ich orderte eine der Teigscheiben, die gerade lustig durch die Küche flogen, und zwar in der ungetunten Version, also als »Margarita«. Sicherheitshalber. Dazu gab es alkoholfreies Bier und für Sonia ein Mineralwasser, »aber bitte ohne Zitronenscheibe«.
»Also, ich finde, jetzt haben Sie mich lange genug auf die Folter gespannt, Chef!«, sagte Sonia, die Hamsterbäckchen possierlich rund gefüllt mit Tagliatelle und Lachsstreifen. »Jetzt will ich aber die angekündigte Geschichte hören. Und vor allem möchte ich unbedingt wissen, auf welche tolle Idee ich Sie gebracht habe, ohne davon etwas zu merken!«
»Also Sonia, genau genommen gibt es zwei Geschichten. Eine offizielle Kurzversion und Arnos haarsträubende Langversion. Welche soll ich zuerst erzählen?«
»Die kürzere und, wie ich annehme, langweiligere.«
»In Ordnung, die ist tatsächlich schnell erzählt: Josef Bunzenbichler beschließt, warum auch immer und ganz gegen seine üblichen Gewohnheiten, sich mal ordentlich einen anzusaufen, torkelt im Dunklen nach Hause, fällt dabei in einen Straßengraben, schlägt mit dem Kopf auf einen Stein, wird ohnmächtig und – erfriert. Das Ende eines Familientyrannen, den keiner leiden konnte.«
Sonia guckte mich enttäuscht an.
»Das war schon alles? ›Arnos haarsträubende Langversion‹ ist aber hoffentlich spannender!«
Ich legte Messer und Gabel beiseite, ließ die Pizza Pizza sein und nahm noch einen kräftigen Schluck vom Alkoholfreien.
»Fangen wir mit den Fakten, Informationen und Beobachtungen an, die wir bis jetzt zusammengetragen haben: Da ist ein Schwarz-Weiß-Bild in einer Herrgottsecke, das Bände spricht. Da ist ein Teenager, der an irgendetwas sehr zu leiden scheint und sich darüber charakterlich total verändert. Da ist eine Zeitspanne von ungefähr sieben bis zehn Monaten, in denen dieser Teenager komplett von der Bildfläche verschwindet. Da ist eine behinderte, junge Frau, von der niemand etwas weiß oder wissen will. Da ist eine strenggläubige Mutter, die alles, was geschieht, dem ›Willen des Herrn‹ zuschreibt, dem man sich zu beugen habe. Und ein tyrannischer Vater mit reichlich pädophilen Neigungen, der bei einem ziemlich eigentümlichen Unfall ums Leben kommt, unter ziemlich eigentümlichen Umständen und mit einer ziemlich eigentümlichen Verletzung im Rachen.« Ich machte eine Kunstpause, die ich für einen weiteren Schluck Bier nutzte. Sonia hingegen schaute mich gespannt an und vergaß zu kauen. »Und das alles ergibt für mich folgende Geschichte:« fuhr ich fort. »Wir befinden uns am Anfang der 70er-Jahre. Die Bunzenbichlers haben endlich Nachwuchs bekommen, alle freuen sich, alle sind stolz. Es ist zwar nicht der erhoffte männliche Erbe, aber dafür ein süßes Mädchen, das Familienidyll ist also fast komplett. Aber nur für ein paar Jahre, dann laufen die Dinge aus dem Ruder. Und für die kleine Tochter beginnt eine Leidenszeit, die über ein Jahrzehnt lang andauern wird. Zuerst fängt es ganz unscheinbar, eigentlich sogar harmlos an. Maria mag es einfach nicht, wenn der Vater ihr beim Baden zusieht, weil er dann nämlich immer so komisch guckt. Das macht ihr Angst. Und sie mag es noch viel weniger, wenn er ihr beim Abtrocknen zu innig den kleinen Kinderpopo tätschelt und sie – natürlich rein zufällig – immer so eigenartig berührt. Sie mag von ihm nicht auf dem Arm getragen werden, mag nicht von ihm angefasst werden, mag seine ekligen, feuchten Küsse nicht. Und die Mutter? Stark anzunehmen, dass die das alles auch bemerkt, aber sie will es nicht wahr haben. Und schaut weg. Agnes Bunzenbichler schaut auch später weg, als Maria schon längst kein kleines Mädchen mehr ist, sondern ein Teenager, eine junge Frau mit Busen und unverkennbar weiblicher Figur, der Schwarm aller Jungens. Und irgendwann passiert es, ein Mal, ein zweites Mal, dann immer öfter, in immer kürzeren Abständen, frühmorgens vielleicht oder in der Nacht, im Stall oder in ihrem Zimmer, das sie natürlich hätte abschließen sollen. Vielleicht hat sie vergessen abzuschließen? Vielleicht hat sie aber auch aus lauter Angst nicht abgeschlossen? Wie auch immer: Es ist widerwärtig und bedrohlich, sie ist allein und kann
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