KATZ oder Lügen haben schlanke Beine (German Edition)
Freude machen, bei denen man wieder ganz genau weiß, warum man diesen Beruf gewählt hat. Ich darf das eigentlich gar nicht laut sagen, aber Sie war meine absolute Lieblingsschülerin. Aufgeweckt, wissbegierig, intelligent und offen. Aber das hat sich dann leider völlig geändert. Sie hat sich langsam aber sicher immer mehr in sich zurückgezogen, hat mir nichts mehr anvertraut ... ich weiß nicht, ob ich Ihnen das jetzt überhaupt erzählen soll ...«.
Ich sagte nichts, blickte Annerose Brandner nur an. Aber meine Augen sprachen mit ihren und sagten: »Nur zu, vertraue mir, du weißt doch, dass du mir alles erzählen kannst, nicht wahr?«
»... ich kam einfach nicht mehr an sie heran. Das hat mir sehr leidgetan, damals. Eigentlich sogar schon wehgetan.«
»Wie alt war sie da?«
»Ich meine, zwölf oder dreizehn. Aber das war eigentlich mehr ein Prozess, der sich über zwei oder drei Jahre hinzog. Bis zu dem Zeitpunkt, als sie plötzlich nicht mehr in der Schule erschien. Da war sie fünfzehn.«
»Und wo lag die Ursache für diese Veränderungen, Ihrer Meinung nach?«
»In ihrem Elternhaus, ganz klar! Ihr Vater war ein gewalttätiger Grobian, wenn Sie mich fragen. Der hat damals alle regelrecht tyrannisiert und Marias Mutter konnte oder wollte dem nichts entgegensetzen. Aber ich war auch nicht energisch genug, das muss ich mir zum Vorwurf machen. Ich hätte das Jugendamt einschalten sollen, alle Hebel in Bewegung setzen. Stattdessen habe ich mich genauso einschüchtern lassen wie die anderen. Ich habe Maria damals im Stich gelassen, verstehen Sie? Es geht doch nicht nur um Deutsch und Mathematik, man muss doch auch darüber hinaus für jemanden da sein, der in Schwierigkeiten steckt. Meine einzige Entschuldigung ist, dass ich damals halt noch jung und unerfahren war. Aber manchmal fürchte ich, das ist vielleicht nur eine Ausrede für mangelnde Zivilcourage.«
»Wer hat die schon? Sie sollten da mit sich selber nicht kritischer sein als all die anderen, die prima ohne solchen Luxus leben.«
»Stimmt schon. Trotzdem ...«
Frau Brandners unsicherer Einwand schwebte durch den Umkleideraum wie eine bunt schillernde Seifenblase. Ich wartete, bis er langsam zu Boden gesunken war und lautlos zerplatzte.
»Sie sagten, Maria kam damals, mit fünfzehn, plötzlich nicht mehr in die Schule. Wie konnte das angehen? Hat da niemand nachgefragt?«
»Nun, die Sache ist die, Herr Katz: Nach den Sommerferien, also zu Beginn des neuen Schuljahrs, versammeln sich die Schüler in der Aula, werden vom Lehrerkollegium begrüßt und beginnen damit praktisch offiziell das neue Jahr. Wer unentschuldigt fehlt, der gilt als ausgeschieden. So einfach ist das.«
»Vielleicht ein bisschen zu einfach, finden Sie nicht?«
»Doch, finde ich auch. Aber was sollen wir machen? Wir können weder die Eltern noch die Schüler letztlich zu etwas zwingen. Wir können immer nur versuchen zu überzeugen. Das ist übrigens sehr viel anstrengender, als die meisten sich das vorstellen.«
»Aber Maria hat dann später doch das Abitur gemacht. Und zwar an dieser Schule?«
»Ja, ein Schuljahr später kam sie wieder zu uns. Noch abweisender als vorher und, ich sag’s nicht gerne, geradezu berechnend und zynisch. Das zeigte sich vor allem, als kurze Zeit später ihr Vater diesen tödlichen Unfall hatte. Ich werde nie vergessen, was sie mir damals geantwortet hat, als ich ihr mein Beileid aussprach. Sie sagte: ›Jeder stirbt eben auf seine Weise‹. Und wie sie das sagte – mit einer solchen Eiseskälte, dass es mir heute noch Schauer über den Rücken jagt. Sie hat sich dann sofort ins Lernen und Nachholen gestürzt, hat sogar ein Jahr übersprungen und mit den anderen Schülerinnen und Schülern aus ihrem Jahrgang das Abitur gemacht. Ein sehr gutes Abitur übrigens. Maria war halt wirklich intelligent. Und fleißig.«
»Haben Sie eine Idee, was zwischen ihrem abrupten Abgang von der Schule und dem ebenso abrupten Wiedereintritt passiert sein könnte?«
Annerose Brandner faltete die Hände, die bis jetzt auf ihren Knien gelegen hatten, wie zum Gebet und ließ die Daumen umeinander kreisen. Sah irgendwie aus wie ein kleiner Elektromotor. Ein winzig kleines Notstromaggregat, mit dem sie neue Energie für die Bewältigung ihrer Erinnerungen erzeugte.
»Nein, nicht wirklich. Wie gesagt, ich kam ja damals schon länger nicht mehr an sie heran. Auf jeden Fall muss ja wohl etwas passiert sein, das sie charakterlich so verändert, ja geradezu
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