Katzenbach: Kriminalroman (German Edition)
hohe Bücherregale aus dunklem
Holz, in denen Bildbände und Fotoalben, Porzellanfigürchen und Kristallgläser standen,
eine antike Kommode, eine Wanduhr. Sie ließ sich auf einen Sessel fallen. Was kann
ich nur tun? Warum hört Stefan nicht auf mich? – Ach, er hörte ja schon lange nicht
mehr auf sie. Zorn stieg in ihr hoch, aber er verrauchte rasch wieder. Sie erhob
sich und ging ins Schlafzimmer hinüber, wo sie in dem hohen, breiten Doppelbett
seit Jahrzehnten allein schlief, seit Paul gestorben war, wenige Jahre nach Stefans
Geburt. Sie hatte Stefan allein aufgezogen, nicht als moderne alleinerziehende Mutter,
sondern als Witwe, die sich ihrer Verantwortung bewusst war. Sie hatte alles darangesetzt,
dass aus ihrem einzigen Sohn, der ohne Vater aufwachsen musste, etwas wurde. Sie
hatte alles für ihn getan, sie wusste, wie das Leben war, aber er, einst ein fügsamer,
lieber Junge, war zunehmend widerspenstig geworden und hatte sich von ihr entfernt.
Sie sei rechthaberisch, hatte er ihr einmal vorgeworfen, sie mische sich zu sehr
in sein Leben ein. Das stimmte doch nicht. Sie hatte ihn letztlich immer machen
lassen, was er wollte. »Was wollte ich überhaupt hier?«, murmelte sie vor sich hin
und ging zurück ins Wohnzimmer. Ihre Gedanken liefen weiter. Jetzt, jetzt hätte
Stefan auf sie hören müssen. Wie sollte sie ihm das begreiflich machen? Sie konnte
es ihm nicht erzählen, er würde wütend werden, dass sie es ihm immer verschwiegen
hatte. Sie wollte doch nur, dass er glücklich war, dass seine Familie glücklich
war. Das war vielleicht nicht so einfach, wie er sich das vorstellte.
Sie erinnerte
sich. Ungern, aber die Gedanken und Bilder ließen sich nicht verscheuchen. Anderthalb
Jahre nach Stefan hatte sie einen zweiten Sohn zur Welt gebracht. Den kleinen Peter.
Peter hatte nur einen Arm gehabt und eine Hasenscharte. Es war ein Schock gewesen.
Greta hatte sich geschämt, vor ihrem Mann, vor der Familie, vor den Nachbarn. Freunde
hatten sich zurückgezogen. Pauls Bruder, für seine Taktlosigkeiten bekannt, hatte
bemerkt: »Das ist ja nur ein halbes Kind. Ist die andere Hälfte noch drin?« Und
er hatte auf ihren Bauch gestarrt, der sich nach der Geburt noch nicht ganz zurückgebildet
hatte. Ein halbes Kind. Nur ein halbes Kind. Das Gefühl, ausgestoßen zu sein, von
einem Moment auf den anderen nicht mehr geschätzt und geliebt, sondern beargwöhnt,
bemitleidet und belächelt zu sein, hatte sich ihr tief eingebrannt. Sie hatte die
Demütigung niemals vergessen. Nur ein halbes Kind hatte sie zustande gebracht, sie,
die hübsche, selbstbewusste, bewunderte Greta, die einen sehr gut situierten Mann
geheiratet hatte. Nur ein halbes Kind.
Als Peter
ein Jahr alt gewesen war, hatte er eines Nachts stark gefiebert und gehustet. Paul
hatte geschlafen, es war ohnehin nicht seine Sache, sich nachts um die Kinder zu
kümmern. Sie hatte dem Kleinen die Stirn mit einem Lappen gekühlt und ihm Tee eingeflößt,
aber er hatte nichts bei sich behalten. Sein kleiner Körper hatte sich unter den
heftigen Hustenanfällen gekrümmt, sein Gesicht war hochrot gewesen und er hatte
geweint und geschrien. Vielleicht hat er eine Lungenentzündung, war es Greta durch
den Kopf gefahren, ich müsste den Arzt rufen, ich müsste Peter ins Spital bringen.
Sie hatte es nicht getan. Sie war beim Baby geblieben, das irgendwann zu erschöpft
gewesen war, um zu schreien, und war in einen dünnen Schlaf gefallen. Am nächsten
Morgen ging es Peter noch schlechter. Sie blieb bei ihm, hielt ihn, streichelte
ihn, gab ihm zu trinken. Aber sie rief den Arzt nicht. Am Abend war Peter gestorben.
Erst da ließ sie den Arzt kommen. Peter hatte tatsächlich eine Lungenentzündung
gehabt. Niemand hatte Greta einen Vorwurf gemacht, niemand hatte Fragen gestellt.
Sie hatten den Säugling in einer kleinen Zeremonie bestattet, nur die engsten Familienangehörigen.
Dem zweieinhalbjährigen Stefan, der noch eine Weile nach seinem Brüderchen gefragt
hatte, hatten sie gesagt, Peterchen sei jetzt im Himmel bei den Engeln. Sie hatten
niemals wieder von Peter geredet, auch Greta und Paul nicht, und Stefan hatte seinen
Bruder mit der Zeit vergessen. Sie waren niemals zu seinem Grab gegangen, und Stefan
wuchs in dem Glauben auf, er sei immer ein Einzelkind gewesen. Er wird es erfahren,
wenn ich tot bin und er meine Papiere durchsieht, dachte Greta, aber dann wird es
mir gleichgültig sein. Greta hatte niemals Gewissensbisse verspürt, wenn ihr Peter
in den Sinn
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