Katzenbach: Kriminalroman (German Edition)
überhaupt
einen gehabt? Was hatte ihr Mann für Gefühle gehabt, wenn sie neben ihm im Bett
lag? Hatte er sie begehrt? Und wie war es für das Paar gewesen, als ihre Tochter
ebenfalls behaart zur Welt gekommen war? Ach, das sind Fragen aus dem einundzwanzigsten
Jahrhundert, die ich mir da stelle, sagte sich Leon, vielleicht völlig falsche Fragen.
Was für eine Bedeutung hat es für Luzia, was für ein Leben Madleine, mehr als vierhundert
Jahre früher, gehabt hat? Absolut keine.
Hätte es
für Nadine eine Bedeutung, das Bild von Madleine zu sehen? Leon war unsicher. Er
wusste nicht, ob er seiner Schwester und Stefan von seinem Besuch hier erzählen
sollte. Gab es überhaupt Fotos von Luzia? Von Lotte gab es natürlich Dutzende. Im
Bettchen. In der Badewanne. Im Kinderstühlchen. Lachend. Ernst. Weinend. Trotzig.
Übermütig. Ihr viereinhalbjähriges Leben war minutiös dokumentiert, und sie liebte
es, Babyfotos von sich anzusehen. Ich werde Luzia fotografieren, nahm sich Leon
vor. Er bestellte sich ein Sandwich und aß es hastig. Zeit zurückzufahren, befand
er. Im Büro gab es noch zwei, drei dringende Sachen zu erledigen. Und er musste
einen Rundgang mit Benja machen. Hans, sein Geschäftspartner, passte zwar gern auf
den Hund auf, aber er hatte natürlich keine Zeit, lange mit ihr spazierenzugehen.
Auf der Rückfahrt war Leon in gedrückter Stimmung, er wusste selbst nicht, wieso.
Normalerweise fuhr er gern schnell, er hatte einen schwarzen Alfa, aus dem er gern
was herausholte, auch über die erlaubte Höchstgeschwindigkeit hinaus. Aber heute
machte es ihm keinen Spaß. Der Kummer, den er in den Augen des Mädchens Madleine
wahrzunehmen geglaubt hatte, ging ihm nicht aus dem Kopf.
»Frau Evren, wo sind die Krankengeschichten
für heute?«
»Hier, Herr
Doktor.« Sibel Evren kam mit einem Stapel Mäppchen aus dem Büro. Sie war eine zarte
junge Frau, etwas über dreißig, mit kurzgeschnittenen braunen Haaren und dunklen
Augen. »Frau Attinger kommt heute mit Luzia«, bemerkte sie.
»Ach ja,
endlich, haben Sie sie angerufen und an den Termin erinnert? Das Kind ist schon
fast drei Monate alt, sie hätte vor drei Wochen mit ihm kommen sollen.«
»Ja, ich
habe gestern angerufen und ihr den Termin für heute gegeben.«
»Hat sie
gesagt, warum sie nicht eher gekommen ist?«
»Sie sagte,
sie habe es vergessen.«
»Vergessen?«
Andrin Capeder war höchst erstaunt.
Seine Praxisassistentin
zuckte ratlos die Schultern. »Ich weiß auch nicht, was das soll. Sie schien mir
immer eine pflichtbewusste, liebevolle Mutter zu sein.«
»Um welche
Zeit kommt sie?«
»Um halb
zehn.«
»Messen
und wiegen Sie das Kind, bevor es zu mir kommt. – Sie haben doch eine halbe Stunde
Zeit reserviert?«
Sibel Evren
nickte. Sie hatte vor einem halben Jahr ihre Ausbildung zur Medizinischen Praxisassistentin
abgeschlossen. Der Job bei Doktor Capeder war ihre erste Stelle. Sie war schon recht
gut eingearbeitet und liebte die Arbeit. Die Ausbildung hatte sie erst mit Anfang
dreißig in Angriff genommen und war glücklich, nun nicht mehr kellnern oder putzen
gehen zu müssen. Manchmal zweifelte sie im Geheimen ein wenig an den Qualitäten
ihres Chefs. Er war bestimmt ein äußerst kompetenter und tüchtiger Kinderarzt, obwohl
er erst wenig über vierzig war. Er war ein bisschen kühl, distanziert, manche Kinder
waren in seiner Gegenwart schüchtern oder sogar ängstlich. Aber er war sehr engagiert.
Etwas erschrocken war Sibel, als sie am dritten Tag in der Praxis Raffaela Zweifel
begegnet war. Sie hatten sich vor ein paar Jahren kennengelernt, als in Valerie
Guts Fahrradgeschäft, in dem Sibel putzte, ein Toter gefunden worden war. Raffaelas
Großtante hatte im selben Haus gewohnt und war als Zeugin in den Fall verwickelt
gewesen. Nun arbeitete Raffaela an zwei Tagen pro Woche als Sekretärin in Andrin
Capeders Praxis. Sie tippte Berichte und wissenschaftliche Artikel. Sibel fühlte
sich nicht recht wohl in der Gegenwart der oft spöttischen, sich überlegen gebenden
Kollegin, und sie war froh, dass Raffaela jene zurückliegende Geschichte nie ansprach.
Sie kann mir egal sein, sagte sie sich. Hauptsache, ich habe diese Stelle. Ihrem
Freund Markus gegenüber, mit dem sie zusammenlebte und der damals im FahrGut als
Mechaniker gearbeitet hatte, erwähnte sie Raffaela nie. Es geht aufwärts mit unserem
Leben, dachte sie, und bei Doktor Capeder kann ich viel lernen. Sie war höflich
zu Raffaela und hielt Distanz. Capeder merkte von der
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