Katzenbach: Kriminalroman (German Edition)
Stimme, ein hohes,
quäkendes Babygreinen. Nadine saß noch immer am Wohnzimmertisch, wie gelähmt. Monster.
Wechselbalg. Teufelskind. Ich bin das, dachte sie. Ich bin ein Monster, ein Wechselbalg,
ein Teufelskind. Ich bin schuld. Sie hörte aufgeregte Stimmen, aber sie nahm nicht
mehr auf, was gesagt wurde. Dann hörte sie die Wohnungstür ins Schloss fallen. Stefan,
der mit beruhigender Stimme etwas zu Lotte sagte. Lotte, die schluchzend antwortete.
Dann kam Stefan ins Wohnzimmer.
»Es tut
mir leid«, sagte er.
»Es ist
nicht deine Schuld«, flüsterte Nadine. Sie stand auf, begann die Kaffeetassen zusammenzustellen
und den Tisch abzuräumen.
»Ich mache
rasch das Fläschchen für Luzia, okay?«
Nadine nickte.
In der Küche füllte sie den Geschirrspüler, reinigte die Pfannen und Töpfe, sie
nahm das weiße Tischtuch vom Esstisch, knüllte es zusammen und warf es zur schmutzigen
Wäsche. Nicht denken, sagte sie sich, keinen Gedanken zulassen, keinen dieser schrecklichen
Gedanken, die ganz nah sind und in mich eindringen wollen.
Stefan kam
in die Küche. »Luzia hat getrunken. Aber sie sollte noch gewickelt werden. Ist es
dir recht, wenn ich mit Lotte eine halbe Stunde hinausgehe, zum Spielplatz? Sie
ist noch immer ganz verstört. Etwas Ablenkung würde ihr guttun. – Wir können abends
reden, du und ich, in Ordnung?«
Nadine nickte.
»Ja, ich kümmere mich um Luzia.«
Sie hörte,
wie Vater und Tochter die Wohnung verließen. Eine schwere Stille senkte sich über
die Wohnung. Nadine kam es vor, als wären sie ganz allein auf der Welt, im geschlossenen
Raum dieser Wohnung, als gäbe es nur sie und das Baby im Zimmer nebenan. Es war
schrecklich und zugleich erleichternd. Sie ging hinüber, legte Luzia auf den Wickeltisch
und zog sie aus. Sie warf die schmutzige Windel in den Abfall und wusch mit warmem
Wasser den Babypo, cremte und puderte ihn ein. Das Baby strampelte und fuchtelte
mit den Ärmchen. Bevor Nadine nach einer frischen Windel griff, schaute sie das
Kind eine Weile an. Seinen dunkel behaarten Körper. Ein Tierchen, ein menschliches
Tierchen. Die Haare waren etwas länger geworden, schien es ihr. Und sie fühlten
sich rauer an. Kätzchen. Äffchen. Wechselbalg. Monster. Ein Schauer überlief sie.
Sie wickelte das Kind in eine neue Windel, zog es an und legte es in Bett.
Dann ging
sie ins Wohnzimmer, wo auf einem kleinen Schreibtisch der Computer stand. Sie schaltete
ihn ein, öffnete den Internet-Browser und gab in einer Suchmaschine den Begriff
›Ambras-Syndrom‹ ein. Das hatte sie noch nie getan. Sie besah sich die Bilder von
diesen Wolfsmenschen, wie sie früher genannt wurden, die unheimlich aussehenden
Männer, die Frauen, die auf Jahrmärkten herumgezeigt wurden. Sie stieß auf ein Buch,
das die Geschichte einer solchen Frau nachzeichnete. Es hieß ›Die hässlichste Frau
der Welt‹.
Die alte Frau hielt sich kerzengerade,
ihr Schritt war fest. Toll, wie sich die Attinger hält, dachte Ernst Gemperli, ihr
sechzigjähriger Nachbar, der ihr entgegenkam. Sie grüßte ihn knapp, ohne ein Lächeln.
Na ja, besonders liebenswürdig war sie nie, das wusste Gemperli seit Langem, aber
fit für ihr Alter, sie war doch bestimmt schon fast achtzig. Und gut angezogen.
Sie ließ sich nicht gehen wie andere ältere Frauen, die an Gewicht zulegten, nichts
gegen den dünn werdenden Haarwuchs unternahmen und ständig über irgendwelche Gebresten
jammerten. Er schaute der Frau nach, die jetzt zu ihrem Haus einbog.
Greta Attinger
hatte keine Ahnung von den Überlegungen ihres Nachbarn. Sie hatte ihn kaum wahrgenommen.
Sie steckte den Schlüssel ins Türschloss. Ihre Hände zitterten, und sie brauchte
drei Versuche, bis die Tür aufging. Auf der Treppe in den ersten Stock wurden ihre
Schritte langsamer, und als – endlich – die Wohnungstür hinter ihr ins Schloss fiel,
blieb sie stehen, lehnte sich eine Weile gegen die Tür. Ihre Züge verloren die Festigkeit,
die Entschlossenheit und Strenge, es war nur noch das Gesicht einer alten, sehr
erschöpften, gequälten Frau. Sie legte ihre Handtasche auf eine kleine Kommode.
Mit langsamen Bewegungen streifte sie den hellen Sommermantel ab und warf ihn achtlos
auf die Garderobe. Sie zog die Schuhe aus, schlüpfte in Hausschuhe. Was soll ich
nur tun?, fragte sie sich. Sie ging in die geräumige, altmodische Wohnküche, eine
Tasse Tee? Sie entschied sich dagegen, ging ins Wohnzimmer, ein schönes Zimmer,
Teppiche, eine dezent gemusterte, schwere Polstergruppe,
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