Katzenbach: Kriminalroman (German Edition)
kam. Sie war überzeugt, dass sie richtig gehandelt hatte. Er hätte kein
glückliches Leben gehabt und er hätte sie alle in sein Unglück mit hineingezogen,
auch Stefan, daran zweifelte sie nicht. Sie hatte die Familie gerettet. Drei Jahre
nach Peters Tod war Paul gestorben, und sie war eine allseits respektierte Witwe
mit einem kleinen, gut erzogenen Jungen, nicht eine ausgestoßene Frau, deren behindertes
Kind das Spiegelbild ihres Ungenügens war. Das möchte ich euch ersparen, dachte
Greta, das Schicksal, nirgends mehr dazuzugehören, stigmatisiert zu sein. Ihr wisst
nichts davon. Aber sie würde alles tun, was in ihrer Macht stand, das Glück der
Familie ihres Sohnes zu retten. Nadine war alles andere als ihre Traumschwiegertochter,
aber Stefan hatte sich nun mal für sie entschieden, und sie, Greta, wollte, dass
er glücklich war. Sie straffte sich. Vielleicht sollte ich einmal mit Nadine allein
reden, dachte sie. Sie ist nicht stark, sie wird mir zuhören müssen. Greta ging
in die Küche, um sich einen Tee aufzubrühen.
Nachts gegen zwei Uhr wurde Stefan
von Luzias Schreien geweckt. Sie forderte ihr Fläschchen. Nadine schlief, sie hatte
Wachspfropfen in den Ohren. Sie hatten nicht mehr viel geredet. Nadine hatte erklärt,
sehr müde zu sein. So sah sie auch aus. Stefan hatte ihr versichert, dass seine
Mutter erst wieder zu Besuch kommen könne, wenn sie sich entschuldigt hatte und
bereit war, Luzia zu akzeptieren. »Da kannst du lange warten«, hatte Nadine gemeint.
Stefan hatte die Schultern gezuckt. Nadine hatte eine leichte Schlaftablette genommen
und war bald eingeschlafen.
Stefan stand
auf, griff sich im Dunkeln den Morgenmantel und tappte hinaus. In der Küche bereitete
er das Fläschchen zu und ging damit in Luzias Zimmer. Sie schaute ihm entgegen,
hungrig, lebhaft, mit großen Augen. Er hob sie aus dem Bettchen, setzte sich mit
ihr im Arm auf einen Stuhl und hielt ihr das Fläschchen hin, an dem sie sofort zu
saugen begann. Die Worte seiner Mutter gingen ihm durch den Kopf. Plötzlich hätte
er beinahe lachen müssen. Monster, hatte sie gesagt. So ein Unsinn. Wegen diesem
Pelzchen. Luzia war ein winziger, sechs Wochen alter Mensch, ein kleines Mädchen
mit Bedürfnissen, Gefühlen, Wahrnehmungen, mit einem Blick, der ihn erkannte. »Ich
bin dein Papa«, flüsterte er, »und du hast auch eine Mama und eine große Schwester.
Und die kennst du alle, weil du zu uns gehörst.« Hatte nicht er selbst manches Mal
vor Luzias Bettchen gestanden und sich dagegen zur Wehr setzen müssen, solche Wörter,
wie sie seine Mutter gebraucht hatte, zu denken? Alien. Tierchen. Wechselbalg. Wie
dumm ich war, dachte er, nicht zu erkennen, dass ich da ein Kind habe, das mir vertraut,
das mich lieben wird, das eine kleine Persönlichkeit ist. Zum ersten Mal empfand
er Zuneigung zu diesem kleinen Wesen. Er legte Luzia zurück, deckte sie zu und ging
getröstet zu Bett.
Endlich stand Leon vor dem Gemälde.
Er hatte es suchen müssen. Zuerst war er durch die Habsburger Porträtgalerie gestreift,
ohne es zu finden.
Leon hatte
am Vormittag in Buchs einen Kunden besucht, der ihm die umfangreiche Bibliothek
seiner vor Kurzem verstorbenen Tante verkaufen wollte. Das Treffen hatte nicht lange
gedauert, Leon hatte gleich gesehen, welche Bände ihn interessierten, und anstatt
nach Zürich zurückzufahren, war er, einem spontanen Entschluss folgend, weiter nach
Osten gefahren, über die österreichische Grenze, nach Innsbruck. Warum tue ich das?,
hatte er sich gefragt. Egal, ich muss es sehen. Er folgte den Wegweisern nach Schloss
Ambras, einem beeindruckenden weißen Gebäude auf einer Anhöhe oberhalb der Stadt.
Ambras-Syndrom, das hatte er immer für einen streng medizinischen Begriff gehalten,
und er war verblüfft gewesen, als er bei einer Internetrecherche herausgefunden
hatte, dass der Name von Luzias Anomalie aus dem kulturellen Bereich stammte. Im
Museum des Schlosses Ambras waren Bilder von sogenannten Haarmenschen ausgestellt,
die im sechzehnten Jahrhundert gelebt hatten. Leon hatte nicht geplant hinzufahren
– oder hatte es doch untergründig damit zu tun gehabt, dass er das Treffen in Buchs
auf den Vormittag gelegt hatte? Er war normalerweise kein Frühaufsteher, sondern
kam erst am frühen Nachmittag in die Gänge und arbeitete am liebsten in den Abend
hinein. Jedenfalls war um elf Uhr, nach dem Termin, plötzlich der Gedanke da gewesen,
nach Innsbruck zu fahren. In der Porträtgalerie eine Unmenge von
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