Katzenbach: Kriminalroman (German Edition)
vermutlich
in der Luft zerrissen. Nichts fürchtete Streiff mehr als das. Obwohl er wusste,
dass er ein ausgezeichneter Ermittler war, nagten doch immer wieder Selbstzweifel
an ihm, etwa wenn er spätabends an seinem Küchentisch saß und ein letztes Bier trank
oder wenn er vor dem Badezimmerspiegel stand, sich über den jetzt fast mehr grauen
als roten Schopf strich und sich fragte, ob er wieder ein, zwei Kilo zugenommen
hatte. Obwohl es schon Jahrzehnte zurücklag, quälte ihn die Erinnerung an den peinlichsten
Vorfall, den ihm seine Gesichtsblindheit beschert hatte, wann immer er ihm in den
Sinn kam. An einem Fest war er auf eine hübsche Frau zugegangen und hatte sich ihr
vorgestellt. »Ich weiß«, hatte sie spöttisch erwidert, und ihm war aufgegangen,
dass er sie von der Uni her kannte. Hätte die Party nicht auf einem Schiff stattgefunden,
das eben vom Ufer ablegte, wäre er sofort weggegangen. Jedenfalls fühlte er sich
in seiner bärbeißigen Rolle, die er in der Öffentlichkeit gern spielte, geschützt.
Die Frau ging durchs Dorf. Ihre
blonden Haare waren gekraust, auf der Nase hatte sie eine große Sonnenbrille. Sie
trug eine türkisfarbene Hose, die ihr etwas zu eng war. Die gelbgrün gemusterte
Bluse passte nicht dazu. Sie schien kein Ziel zu haben, schaute rechts und links
in Schaufenster, blieb ab und zu stehen, beschleunigte dann wieder ihren Schritt.
Die will wohl zum Kloster, dachte eine junge Frau mit Kinderwagen und Hund, die
am Einkaufen war. Sie hat vielleicht einen Kummer und will um etwas bitten. Oder
einen neuen Rosenkranz kaufen. Aber die Frau bog vor dem Kloster rechts in die Grünanlage
ein. Die Souvenirstände mit den dicken bemalten Kerzen, den Schlüsselanhängern und
Kugelschreibern, die mit Heiligenbildchen bedruckt waren, interessierten sie nicht.
Sie setzte sich auf dem Spielplatz auf eine Bank und schaute den spielenden Kindern
zu, die Fangen spielten, miteinander stritten oder von der Schaukel herab ihren
Müttern zuwinkten. Die Frau wurde von niemandem beachtet. Es war sehr warm. Sie
kramte in ihrer großen, unmodischen Stofftasche nach einer Tube und rieb sich Gesicht
und Arme mit Sonnencreme ein. Dann zog sie eine bunte Zeitschrift hervor und blätterte
darin. Dazu rauchte sie eine Zigarette, sog den Rauch tief in die Lunge. Sie legte
die Zeitschrift weg. Wegen der Sonnenbrille hätte man nicht sagen können, wohin
sie schaute. Etwas später nahm sie eine Flasche Cola und ein Salamisandwich aus
der Tasche. Sie aß langsam und rauchte nachher eine weitere Zigarette. Es war eine
gute Idee hierherzukommen, dachte sie. Hier ist es ruhig und friedlich. Vielleicht
sollte ich von Zürich weggehen und hier leben. Hier gibt es sicher günstige Wohnungen,
und ich müsste nicht mehr alle drei Wochen mit dieser neugierigen Frau Heiniger
Kaffee trinken gehen. Sie will immer wissen, wie es mir geht, was ich tue. Was soll
ich denn sagen? Es geht sie nichts an. In meine Wohnung werde ich sie nie mehr lassen,
sie darf es nicht sehen. Wenn ich hier leben würde, hätte ich meine Ruhe. Ich würde
mit meinem Kind zum Spielplatz kommen. Bei diesem Gedanken erschrak sie. Unruhe
erfasste sie. Ich darf das nicht denken, das wusste sie. Ich darf das nicht mehr
tun, ich hätte es nicht tun dürfen. Aber, lehnte sie sich auf, warum soll ich kein
Baby haben dürfen? All diese Frauen hier haben auch eins oder sogar zwei. Ich würde
gut für das Kleine sorgen. Eine Erinnerung stieg in ihr auf, bedrückend, quälend.
Ja, es war ein Fehler gewesen, sie hätte es anders anstellen müssen. Es war so schnell
gegangen, der unbewachte Kinderwagen, das plötzlich übermächtige Gefühl, das Baby
haben zu wollen. Ich würde es nicht allein im Garten lassen, das Kleine hätte es
bei mir viel besser, blitzschnell war dieser Gedanke durch sie gefahren. Sie hatte
das Baby aus dem Wagen genommen. Aber nachher war alles so schrecklich gewesen,
sie durfte nicht daran denken. Frau Heiniger wäre böse auf sie. Sie stand auf und
verließ den Spielplatz, überquerte den Platz und setzte sich auf die Terrasse des
Café Tulipan, wo sie einen Kaffee trank. Aber ihre friedvolle Stimmung war weg,
sie fühlte sich angespannt und ängstlich. Ich muss es tun, dachte sie, deshalb bin
ich doch hergekommen. Sie bezahlte und machte sich auf den Weg zum Bahnhof. Dort
studierte sie den Ortsplan und ging dann langsam in Richtung Spital. Da war es,
das große weiße Gebäude. Sie ging zögernd darauf zu. Hier war es schon, das
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