Katzenbach: Kriminalroman (German Edition)
Aufmerksamkeit noch Geld aufgewendet. Die Wände entlang standen billige Stühle,
in der Mitte ein niedriger hässlicher Tisch, auf dem ein paar Zeitschriften lagen.
In der einen Ecke gab’s ein Kindertischchen mit zwei Stühlchen. Ein etwa dreijähriges
Mädchen malte eine Zeichnung in einem Malbüchlein aus, ein Junge kniete auf dem
Boden und bemühte sich, eine einäugige, verstrubbelte Puppe auf einer Lokomotive
zu platzieren. Die beiden Mütter unterhielten sich leise. Sie hatten dem kinderlos
auftretenden Streiff einen verwunderten Blick zugeworfen und beachteten ihn dann
nicht mehr. »Doktor Capeder hat mir geraten, ein Bauchwehtagebuch zu führen, also
immer aufzuschreiben, wann, in welchen Situationen, nach welchem Essen Elisa über
Bauchschmerzen klagte. Erstaunlicherweise hat das dazu geführt, dass Elisa immer
seltener Bauchweh hat.«
»Hat er
denn nicht zuerst gründlich abgeklärt, woher die Schmerzen rühren könnten?«, warf
die andere skeptisch ein.
»Doch, natürlich,
aber er hat eben nichts gefunden. Und jetzt geht’s meiner Kleinen wieder gut.«
»Komm, Sven,
stör den Herrn nicht«, ermahnte die Mutter des Jungen ihren Sohn, der nun seine
Lokomotive auf Streiff zusteuerte.
»Kein Problem«,
versicherte Streiff.
Sibel Evren
erschien. Sie warf ihm einen entschuldigenden Blick zu und holte die Frau, die mit
ihrer kleinen Tochter da war. Keine Vorzugsbehandlung für die Polizei, dachte Streiff.
Er erhob sich und ging hinaus.
»Doktor
Capeder ist ein wenig in Verzug, weil er einen Notfall dazwischenschieben musste«,
erklärte Sibel Evren. »Frau Hilfiger mit Elisa hat deswegen schon ziemlich lange
gewartet.«
»Haben Sie
die Attingers gekannt?«, fragte Streiff.
Sibel nickte.
»Ja. Das ist eine so traurige Geschichte. Mir hat das kleine Mädchen so leidgetan.«
»Was hatten
Sie für einen Eindruck von der Mutter? Wie war sie zu dem Kind?«
Die junge
Frau dachte nach. »Sie hat sich verändert. Auch das ältere Mädchen, Lotte. Am Anfang
schien es gut zu laufen. Frau Attinger war liebevoll zu Luzia. Und Lotte war fröhlich
und lebhaft, interessierte sich für ihr Schwesterchen. Aber dann, als sie das letzte
Mal gekommen sind, vor einigen Wochen, da war Frau Attinger so in sich gekehrt,
sie hielt Luzia, aber es schien ihr gar nicht bewusst zu sein, dass sie ein lebendiges
Kindchen im Arm hatte. Und Lotte war ganz still und traurig. Ich dachte noch, ob
Frau Attinger eine Depression hat.«
»Was dachten
Sie über Luzia?«
»Ach, ich
weiß nicht, ob ich es sagen darf. Doktor Capeder hat mich zurechtgewiesen. Aber
ich denke, es ist gut, dass das kleine Mädchen sterben durfte. Es hätte ein einsames,
unglückliches Leben gehabt. Wissen Sie, es sah doch fast aus wie ein Tierchen. Die
Kinder in der Schule hätten es ausgelacht. Und später, nein, es hätte kein schönes
Leben gehabt.«
Im Türrahmen
tauchte Raffaela Zweifel auf. »Tja, Sibel, vielleicht hast du ein wenig nachgeholfen?«
»Wie kannst
du so etwas sagen!«, wehrte sich Sibel.
»Na ja,
du warst gestern nicht hier, du warst krank gemeldet. Gerade an dem Tag, als die
Kleine im Bach landete.« Raffaela lächelte spöttisch. »Das gibt es doch beim Pflegepersonal
immer wieder, die sogenannten Todesengel, die Patienten erlösen wollen.«
Sibel Evren
wurde dunkelrot. Sie sah Streiff in die Augen und schüttelte nur langsam den Kopf.
»Und Sie?«,
wandte sich Streiff an Raffaela, die perfekt geschminkt, mit modischem Haarschnitt
und gut angezogen dastand. »Sie sind doch sicher auch der Meinung, dass gutes Aussehen
für eine Frau wichtig ist. Was dachten Sie über dieses Baby?«
»Mir ist
das egal«, versicherte die junge Frau, »ich schreibe hier meine Berichte und dann
gehe ich wieder. Wie andere aussehen, kümmert mich nicht.« Sie warf einen kurzen
Seitenblick auf Sibel Evren.
Weiber,
dachte Streiff genervt. Aber die Worte der jungen Praxisassistentin gaben ihm zu
denken. Es ist gut, dass das Baby sterben durfte, hatte sie gesagt. Sterben durfte.
Dabei war es umgebracht worden. War sie sich der unterschwelligen Brutalität ihrer
Formulierung bewusst? Und sie war gestern krank gemeldet gewesen. Wohnte sie nicht
in Oerlikon? Gar nicht weit von Seebach entfernt. Raffaela Zweifel verschwand wieder.
Sibel Evren
ließ den Kopf hängen. »Ich würde nie so etwas tun«, versicherte sie. »Gestern hatte
ich heftige Kopfschmerzen, das habe ich manchmal. Ich war den ganzen Tag zu Hause.«
»Hat Ihr
Freund Sie gepflegt?«, erkundigte
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