Katzenbach: Kriminalroman (German Edition)
sich Streiff.
Der Doppelsinn
seiner Frage entging ihr nicht. »Nein, Markus musste arbeiten. Er hat seit Kurzem
wieder eine Stelle.« Sie lächelte.
Streiff
nickte. Er hatte Markus Stüssi vor ein paar Jahren im Zusammenhang mit dem Mordfall
kennengelernt, damals hatte er im FahrGut gearbeitet.
Nun ging
die Tür des Sprechzimmers auf, Elisa und ihre Mutter kamen heraus, begleitet vom
Kinderarzt. »Tsüss, Doktor«, rief Elisa und eilte zur Kindergarderobe, um ihre rosa
Jacke zu holen.
»Auf Wiedersehen,
Herr Doktor Capeder, heißt das«, rief die Mutter ihr nach.
»Nein, ich
sage tsau, Capedel«, beharrte die Kleine und grinste frech, während sie sich in
ihr Sommerjäckchen kämpfte. Die Mutter verdrehte die Augen.
»Gehen wir
jetzt swimmen, wenn ich kein Bauchweh mehr habe?«
»Ja, aber
du musst höflich sein, Elisa.« Die beiden gingen hinaus.
Der Kinderarzt
bat Streiff ins Sprechzimmer. In der nächsten Viertelstunde bombardierte Capeder
ihn mit einer geballten Ladung von Informationen über das Ambras-Syndrom. Streiff
wurde langsam klar, was ein Leben mit dieser Anomalie bedeutet hätte. Einfach wäre
es sicher nicht gewesen, weder für das Mädchen noch für seine Familie. Aber das
Kind deswegen umbringen?
»Hatten
Sie den Eindruck, dass die Mutter überfordert war von der Situation?«, fragte er.
»Das Kind
war keineswegs vernachlässigt«, erwiderte Capeder. »Es war gesund, gut ernährt,
sein Entwicklungsstand, auch sein Verhalten entsprachen genau seinem Alter.«
»Ihre Praxisassistentin
deutete an, dass Frau Attinger einen depressiven Eindruck machte«, warf Streiff
ein.
Capeder
wirkte etwas genervt. »Ich bin kein Psychologe«, sagte er. »Wenn die Mutter Hilfe
gebraucht hätte, hätte sie sich an eine geeignete Stelle wenden müssen. Ich habe
festgestellt, dass sie sich gut um das Baby gekümmert hat.«
»Halten
Sie es für möglich, dass sie ihr Kind selbst getötet hat?«
»Fragen
Sie mich etwas Leichteres«, seufzte Capeder. Das erste Mal bröckelte seine Fassade
des kühlen, kompetenten Arztes ein bisschen. »Sie dürfen nicht glauben, dass mich
dieser Fall kaltlässt. Ich kann dazu nichts sagen. Ich glaube es eigentlich nicht.
Frauen, die ihr Kind töten, handeln immer aus einer tiefen Not und Verzweiflung.
Sie halten in einer unerträglichen Situation durch, solange es irgendwie geht, vertrauen
sich niemandem an – bis es dann zur Explosion, zur Katastrophe kommt. Aber in diesem
Fall, die Frau war ja nicht allein mit dem Kind, zur ersten Untersuchung ist auch
der Vater mitgekommen, sie schienen eine intakte Familie zu sein, in guten Verhältnissen,
sozial abgestützt, alles ganz normal.«
Streiff
schwieg.
»Auch andere
Familien haben ein Kind mit einer Behinderung oder Krankheit, die auffällt«, fügte
Capeder hinzu. »Auch denen schlägt gelegentlich Ablehnung entgegen. Aber oft lieben
Eltern ein solches Kind ganz besonders tief und tun alles, um ihm ein gutes Leben
zu ermöglichen. Es gab für mich keinen Grund anzunehmen, dass Frau Attinger diese
Situation nicht bewältigen würde.«
Er wirkte
nun etwas ungeduldig, fast als hätte Streiff ihm vorgeworfen, zu wenig getan zu
haben. Machte er sich insgeheim Vorwürfe? War er innerlich doch nicht so überzeugt
davon, dass es kein Problem war, ein Kind mit einer solch auffallenden und seltenen
Anomalie wie dem Ambras-Syndrom aufzuziehen?
»Haben Sie
selbst Kinder?« Die Frage entfuhr ihm ganz unvermittelt.
Capeder
schüttelte den Kopf. »Ich lebe in einer registrierten Partnerschaft. Wenn es erlaubt
wäre, würden mein Mann und ich wohl welche adoptieren. Aber so weit ist unsere Gesellschaft
noch nicht.«
Er rollte
in seinem Stuhl etwas zurück. »Nun–«, Streiff verstand. Er war entlassen. Er bedankte
sich für die Auskünfte und verließ die Praxis.
Die Journalisten waren natürlich
in Scharen gekommen, das hatte Streiff auch nicht anders erwartet. Die Vertreter
der Lokalradios hatten ihre Mikrofone vor seinem Tisch befestigt, die Videojournalisten
der kleinen Fernsehstationen hatten sich günstig platziert und die Vertreter der
Presse balancierten kleine Laptops oder Notizbücher auf den Knien. Streiff gab einen
knappen Abriss der Ereignisse, dann prasselten Fragen auf ihn ein, die er ebenso
knapp beantwortete. Ja, es gab Personen, die unter Verdacht standen. Nein, er konnte
nichts dazu sagen, ob auch ein Familienmitglied verdächtig war. Nein, über die Familie
konnte er nichts Näheres sagen.
»Diese Familie
hat ein
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