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Katzenbach: Kriminalroman (German Edition)

Katzenbach: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Katzenbach: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Morf
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Schild
mit einem Pfeil: Babyfenster. Sie ging über den Kiesweg, an Pflanzenkübeln vorbei.
Dann stand sie davor. Es war ein Fenster, das man von außen öffnen und herunterkippen
konnte. Dahinter stand ein Babybettchen, die gelbblaue Bettwäsche war mit Löwen,
Zebras, Pfotenabdrücken bedruckt. Darüber hatte sie gelesen. Hier kamen Mütter vorbei
und legten ihr Neugeborenes, das sie nicht behalten wollten, hinein und gingen wieder.
Das wäre kein Diebstahl, keine Entführung, wie man es ihr beim kleinen Michael vorgeworfen
hatte. Das wäre ein Baby, das niemandem gehörte, das niemand haben wollte. Sie ging
zurück und setzte sich auf eine Bank. Sie hatte keine Ahnung, wie oft hier eine
Mutter vorbeikam und ihr Kind abgab. Aber vielleicht würde es heute Nachmittag geschehen.
Oder morgen. Sie zündete sich noch eine Zigarette an. Sie würde eine solche Frau
gleich erkennen. Sie wäre sehr jung, viel zu jung, um ein Kind aufzuziehen. Sie
würde das Baby in einem Tragtuch halten. Sie würde mit raschen Schritten kommen,
ängstlich, dass sie jemand beobachten könnte. Sie würde das Fenster herunterklappen,
das Kind hineinlegen und schnell, ohne sich noch einmal umzusehen, weggehen. Und
dann werde ich von der Bank aufstehen, dachte sie, zum Babyfenster gehen, es wieder
öffnen und das Kleine herausheben. Niemand würde es merken, niemand würde überhaupt
je wissen, dass ein Baby in dieses Bettchen gelegt worden war. Dann würde sie mit
ihm zum Bahnhof gehen und nach Zürich zurückfahren. Ihr weniges Gepäck würde sie
in der Pension zurücklassen und es sich nachschicken lassen. Sie hatte sich die
Szene so intensiv ausgemalt, dass sie jetzt ganz aufgeregt zur Straße hinüberstarrte,
die vom Bahnhof herführte. Gleich musste sie doch kommen, die junge Mutter mit ihrem
Neugeborenen. Es kamen zwei ältere Frauen, die sich lebhaft im einheimischen Dialekt
unterhielten, dann ein junger Mann in blauen Latzhosen und einem weißen T-Shirt,
der zu Baustelle ging, etwas später zwei Kinder mit Schultaschen am Rücken. Sie
nestelte wieder die Zeitschrift hervor und tat so, als würde sie lesen. Nach zwei
Stunden war sie ermattet von der Hitze und ein wenig entmutigt. Heute würde die
Frau wohl nicht mehr kommen. Sie trank den Rest ihrer Cola, erhob sich und trottete
die Straße hinunter. Ich werde mich vor dem Nachtessen ein wenig hinlegen, beschloss
sie, ich werde morgen wiederkommen.
     
    Streiff schaute auf die Uhr. Gleich
Mittag. Er beschloss, Valerie zu einem kurzen Essen abzuholen. Im Sommer war zwar
ihr Fahrradgeschäft FahrGut auch über Mittag offen, aber vielleicht konnte sie den
Laden für eine Dreiviertelstunde ihren Angestellten überlassen. Sie beschäftigte
eine tüchtige Mechanikerin und einen Lehrling, der allerdings, wie sie manchmal
seufzte, mehr Flausen als anderes im Kopf hatte.
    Sie ließ
sich überreden, und bald saßen sie sich an einem der Holztische vor dem ›Plüsch‹,
einem kleinen Lokal in der Nähe, gegenüber und gabelten einen großen Salat, der
mit Siedfleisch garniert war, in sich hinein. Es war zwar etwas laut, Autos und
der 31-er Bus fuhren ständig vorbei, aber das war eben Summer in the City. Valerie
hatte etwas schwarze Finger und einen kleinen Fleck Karrenschmiere über der rechten
Augenbraue, aber Beat machte sie nicht darauf aufmerksam, er mochte sie so. Ihre
braunen Locken waren während der Arbeit streng am Hinterkopf zusammengebunden und
hochgesteckt. Beat hätte ihr gern den Haarknoten gelöst, aber das war natürlich
erst am Feierabend erlaubt. Es war heiß, sie unterhielten sich über Alltägliches,
Valerie erzählte, was im Geschäft gelaufen war, Beat berichtete vom Termin beim
Kinderarzt, der vor ihm lag.
    »Capeder?«,
lachte Valerie. »Da wirst du alte Bekannte antreffen. Sibel arbeitet bei ihm, und
auch Raffaela Zweifel ist an zwei Tagen pro Woche dort und tippt Berichte.«
    »Wer weiß«,
meinte Beat träge, »vielleicht können mir die auch weiterhelfen.«
    »Ja, Sibel
hat eine gute Beobachtungsgabe und grübelt viel«, bestätigte Valerie, »sie kann
dir sicher etwas über das kleine Baby erzählen.« Sibel Evren hatte vor Jahren im
FahrGut geputzt und war mit einem Mordfall, der sich im Fahrradgeschäft zugetragen
hatte, in Berührung gekommen.
     
    Sibel Evren begrüßte Streiff schüchtern.
Sie bat ihn ins Wartezimmer, da der Herr Doktor noch besetzt sei. Streiff sah sich
um. Für die Einrichtung des kleinen Raums hatte Andrin Capeder offensichtlich weder
viel

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