Katzenmond
ihre Naschplätze, die Stellen, an denen sie sich trennten und wiederfanden. Bis zu dem Abend, von dem Wu Serrano berichtet hatte, mussten Wochen der Beobachtung vergangen sein. Eigentlich, fand Serrano, sollte Wu das längst begriffen haben.
»Sie will, dass ich mich um den Schatten kümmere, ohne sich die Blöße einer Bitte zu geben«, sagte er zu Bismarcks Geist. Er wartete. Nach einer Weile vernahm er ein Schwirren, und eine Krähe landete auf dem Zaun vor dem Flieder. Serrano betrachtete sie verwirrt. Was, bitte, wollte ihm Bismarck mit einer Krähe ankündigen? Tod? Raub? So weit war er auch schon.
Eine Frage allerdings war noch offen. Falls seine Theorie ins Schwarze traf, warum umkreiste der Schatten dann nicht auch Wu, die jeden Abend, sobald die Perserinnen auf die Pirsch gingen, allein auf der Terrasse oder im Gartenhaus zurückblieb? Warum hatte er sich überhaupt am Katzenhaus festgebissen?Auch im Viertel gab es schließlich Weibchen, deren Attraktivität die von Krümel bei weitem übertraf. Serrano dachte darüber nach, während er der Krähe beim Putzen zusah. Mehrmals hintereinander wetzte sie ihren Schnabel am linken Flügel, dann sah sie auf, starrte ihm dunkel in die Augen und flog davon. Im selben Augenblick kam Serrano die Antwort. Sie bildete gleichzeitig die letzte Facette vom Bild des Schattens. Er hatte die Perserinnen gewählt, weil all die Eigenschaften, die ihn ausmachten, von einer noch überflügelt wurde – Eitelkeit. Was galt der Nachwuchs von attraktiven Revierkatzen, wenn er auch ein rundes Dutzend halbe Perser haben konnte, Nachwuchs, der jedem zeigte, dass er allein die Unerreichbaren bestiegen hatte?
Zwei volle Stunden und eine halbe Schachtel Zigaretten hatte Franziska Genrich benötigt, um sich leidlich von ihrer Begegnung mit Liebermann vor der Aphrodite zu erholen. Seit einer Weile arbeitete zumindest ihr Kopf wieder. Dafür zitterten ihr die Hände vom Nikotin.
Du wirst dich noch umbringen, sagte sie, während sie die aktuelle Bewohnerin des Fachs Nummer sechs aus dem Kühlschrank zog. Sie sagte es sich täglich, es war gewissermaßen eine ritualisierte Warnung an sich selbst, die ihr allein dadurch, dass sie sie aussprach, das Gefühl gab, etwas für ihre Gesundheit zu tun.
Heute aber war der Effekt gleich null, weil sie direkt im Anschluss dachte: Wegen dieses Idioten. Der sie wie eine Idiotin hatte dastehen lassen. Die sie auch war.
Mit zusammengebissenen Zähnen schob sie ihre neue Patientin unters Licht und deckte sie auf. Sie hieß Martha irgendwas, Franziska hatte keine Lust, auf den Schein zu sehen. Von einem Balkon im ersten Stock gekippt und gestorben. Das musste man erst mal hinkriegen. Gelangweilt warf Franziska einen Blick auf die alte Frau. Sie war geneigt, sich der Diagnose des Notarztesanzuschließen. Herzinfarkt. Die Alte hatte gerade Fenster geputzt. Sie selbst putzte nie Fenster, derart überflüssigen Beschäftigungen widmete sich ihr Mann. Um auszuspannen, wie er behauptete. Aber nach zwanzig Jahren Ehe wusste Franziska es besser: Wer seine Schuhe jeden Abend mit dem Zentimetermaß vor dem Bett abstellte, putzte nicht zum Vergnügen.
Sie verankerte den MP3-Player, den sie ihrem Sohn geklaut hatte, in den Ohren und legte los. Mit etwas Glück fand sich im verfallenen Körper der Alten noch etwas von Interesse, etwas, das den bitteren Geschmack auf der Zunge vertrieb.
Na bitte! Wenn sie nicht alles täuschte, saß dort am unteren rechten Lungenlappen ein Tumor. Mit routinierten Handgriffen legte Franziska ihn frei.
Zweifellos, milchig und etwa so groß wie eine Rosine. Franziska überlegte eben, ob sie eine rauchen gehen sollte, ehe sie sich die Lunge von innen ansah, als die Tür aufging und Liebermann im Raum stand. Um ein Haar wäre sie selbst Opfer eines Herzinfarktes geworden. Sprachlos sah sie, wie die Lippen des Kommissars sich zur Musik in ihren Ohren bewegten. Dann bewegte sich auch der Rest. Liebermann inspizierte die Tische, das Mikroskop, schlenderte durch den Raum und blieb schließlich vor dem Vitrinenschrank stehen. Vor dem Schrank. Mit einem Ruck riss Franziska sich die Stöpsel aus den Ohren.
»Machen Sie, dass Sie hier wegkommen!«
Liebermann drehte sich nach ihr um. »Ich suche etwas.«
»Ihr Gehör vermutlich. Raus, habe ich gesagt, ich arbeite!«
»Ich weiß. Deshalb dachte ich, ich behelfe mich einfach selbst.«
Franziska rutschte fast das Skalpell aus der Hand. Behelfe mich? Der Typ musste als Kind schief gewickelt
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