Katzenmond
Sprachkurs zuzuwenden. Seit zwei Wochen reanimierte er seine Spanischkenntnisse für eine anstehende Gastprofessur in Córdoba, wo er eine Gruppe internationaler Studenten über die Vorzüge eines partizipativen Bürgerhaushaltes unterrichten sollte.
Franziska wusste, dass sie ihren Mann mit ihrem mangelnden politischen Interesse enttäuschte. Im Grunde enttäuschte sie ihn permanent. Aber was sollte sie machen? Wie sollten zwei Achtzehnjährige, die gerade das Abitur in der Tasche hatten, ahnen, wie sie sich einmal entwickeln würden? Oder ihre Leidenschaften? Sie hätten damals nach Delphi fahren und die Überreste des Orakels befragen können. Mit etwas Glück hätte es ihnen gesagt, dass Franziska zwei Kinder bekommen und bald darauf hingebungsvoll die Organe von Toten wiegen würde, dass es ihr aber versagt wäre, je einen ordentlichen Strickpullover zustande zu bringen. Ihrem Mann hätte es frühzeitigen Haarausfall, Heuschnupfen und eine Habilitation als Politikwissenschaftler verheißen. Und ihnen beiden, dass sie sich einmal wie Vertreter unterschiedlicher Kulturkreise und Epochen in ein und derselben Wohnung gegenüberstehen würden. Und dann?
Franziska betrachtete eine Weile ihre Hand mit den kurz geschnittenen Nägeln, ehe sie sie auf die Schulter des Mannes legte, den sie einmal geliebt und danach noch eine Weile gemochthatte. Dumm nur, dass sie dabei an einen anderen dachte. Genau genommen an zwei. Der eine trug die Schuld an ihrer Verspätung, der andere ärgerte sie.
Ihr eigener füllte derweil einen spanischen Lückentext aus. Als Franziska ihn verließ, brummte er etwas, das nicht ihr galt.
Sie verzog sich mit einer Zigarette und ihrem aktuellen Krimi auf den Balkon. »Die Totenschleuse«, was für ein bescheuerter Titel. Andererseits waren die meisten Krimititel bescheuert. Einzig dafür da, die Kunden in den Buchhandlungen vor den anderen anzuspringen. Eigentlich, dachte Franziska, sollte man sie wegen Nötigung verklagen. Und die Pathologen in den Krimis gleich dazu, wegen Hochstapelei. Die hatten nie und nimmer ein Studium absolviert, und ihre Diagnosen holten sie sich wahrscheinlich aus dem Netz. Franziska merkte, wie ihre Nebennieren Adrenalin ins Blut zu pumpen begannen. Sehr gut, mehr erwartete sie von ihrer Lektüre nicht. Sie ergänzte das Hormon durch ein ansehnliches Quantum Nikotin und las, bis es ihr auf dem Balkon zu kalt wurde. Dann scheuchte sie die Kinder vom Fernseher und setzte sich selbst noch eine Stunde davor. Punkt zwölf ging sie schlafen, was in ihrem Fall schon seit geraumer Zeit wach liegen und an die Decke starren bedeutete. Es klang schlimmer, als es war, denn Franziska mochte es, an die Decke zu starren. Manchmal fuhren Reflexionen von Scheinwerfern darüber und lösten Gedankenketten in ihr aus, manchmal kam ihr dabei eine Idee, und manchmal führte sie stumme Gespräche mit einer Stuckrosette, in denen es weder um Politik noch um Leichen ging. In dieser Nacht war die Decke blau.
6
Beim Abschiedsimbiss von Hauptkommissar Otto am Freitagmorgen fanden sich vereinzelt betretene Gesichter. Allen voran das von Henry Müller, der sich mit steinerner Miene durch eine Portion Kartoffelsalat kämpfte. Otto beobachtete ihn betrübt. Nach elf Jahren nahm der Oberkommissar in einer Aufstellung seiner Nächsten mittlerweile so etwas wie den Rang eines Stiefsohnes ein. Ein etwas schwieriger Stiefsohn, zugegeben, aber zäh und zuverlässig und eine treue Seele, wenn man ihn zu nehmen wusste. Seit dem Mittagessen in der Kantine zweifelte Otto stark daran, dass Liebermann dafür der Richtige war. Allein seine Hände! Ohne die behaarten Gelenke darüber hätte er sie für Frauenhände gehalten.
Nicht, dass es ihn noch etwas anging, aber trotzdem. Wie sollten solche Hände einen Löwen wie Müller im Zaum halten? Seufzend stellte Otto sein Sektglas auf den Tisch, dann folgte er Simon ins Büro, um einen Anruf der Vermisstenzentrale entgegenzunehmen.
Wenige Minuten später waren Müller und das Abschiedsbuffet vergessen.
Die Vermissten meldeten eine Anzeige, die wie eine Blaupause auf die Wasserleiche passte: Knut Kaiser, zweiundvierzig Jahre, Internist mit eigener Praxis am Luisenplatz, Brillenträger, war am Dienstag vor zwei Tagen von der Arbeit nicht heimgekehrt.
In Otto regte sich zum letzten Mal Sportsgeist. Er tätigte einen Anruf, dann schloss er für einige Sekunden die Augen, um den geübten Aufmarsch seiner Neuronen nicht zu stören, die in Windeseile Heerschau
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