Katzenmond
abhielten, Verbindungen knüpften, Raster entwarfen, Zeitpläne aufstellen. Er hatte noch einen Tag, aber der gehörte ihm allein, er war sein Abschiedsgeschenk undals solches ungleich wertvoller als der elektrische Rasenmäher, den Kommissarin Holzmann ihm im Namen der Kollegen übereignet hatte. Dann griff er erneut zum Hörer und säte Feuer unter den Hintern der Spurensicherung, wo die Brille, die die Taucher gestern Nachmittag aus dem Schlamm der Havel gefischt hatten, lag, beorderte Müller und Simon zu sich und trug Dr. Genrich auf, die Leiche zur Identifizierung herzurichten, falls sie schon an ihr herumgeschnippelt haben sollte.
Sie klang gereizt. Aber das klang sie immer. Otto wusste, dass er die Launen der kettenrauchenden Pathologin ebenso vermissen würde wie Müllers chronisches Knurren.
Endlich rief er die Nummer an, die die Vermissten ihm gegeben hatten.
Die Frau sprach leise und in angenehmer Tonlage. Gott sei Dank neigte sie nicht zu Hysterie. Hysteriker waren Otto ein Gräuel. Allein als er ihr den Besuch zweier Polizisten ankündigte, die sie zur Gerichtsmedizin begleiten würden, schwankte ihre Stimme ein wenig. Otto legte zufrieden auf und bat Simon, ihm einen Kaffee zu kochen.
Gegenüber dem Schlösschen Lindstedt kommunizierte Franziska Genrich in dem Flachbau, der die Potsdamer Gerichtsmedizin beherbergte, missmutig mit ihrem Patienten. Sie fand ihn attraktiv, trotz seines stachligen Zweitagebartes und des fahlblauen Teints. Daran war sie gewöhnt, und wenn man den Filmpostern über dem Bett ihrer Tochter glauben durfte, lag ein bleicher Teint derzeit sogar im Trend.
Dafür besaß der Patient andere Macken. Zum Beispiel war er verstockt wie eine Zichorienwurzel. Franziska hatte mit ihm geredet, ihn angefleht, gebrüllt und – soweit es in ihren Kräften stand – bezirzt, alles vergeblich. Nicht das winzigste Entgegenkommen, was seine Finger und die Zyanose im Gesicht betraf. Beides typische Symptome eines Ertrinkungstodes. Aber dochnicht gleichzeitig, verdammt! Entweder Waschhaut bis zum zweiten Glied oder blaues Gesicht. Letzterem zufolge hätte er mindestens einen Tag länger in der Havel gedümpelt haben müssen, als die Finger vorgaben. Nach zwei Tagen in einundzwanzig Grad warmem Wasser hätte die Haut einem Handschuh geglichen, den man mühelos abstreifen konnte. Nein, die Finger, im Übrigen auch die Zehen, waren seit höchstens vierundzwanzig Stunden tot gewesen, als sie ans Bullauge dieses verdrehten Lehrers geklopft hatten. Das bedeutete, einen Tag weniger als der Rest.
Eben hatte Franziska dem Blauen gesagt, dass es nichts nutzte, sich taub zu stellen. Sie würde es sowieso herausfinden. Nur hätte sie sich eben ein wenig Hilfe gewünscht. Aus irgendeinem Grund hatte sie geglaubt, dass die Sympathie gegenseitig wäre. Na schön, hatte sie sich eben geirrt. Sie hatte sich schon einmal geirrt, berichtete sie ihm, während sie eine neue Handschuhkiste aus dem Regal klaubte. Eigentlich irrte sie sich ständig: in der Farbe ihrer Kleidung, in der Wahl ihrer Bücher, in ihrem Ehepartner. Kein Grund für Mitleid, denn neuerdings hatte sie eine Methode gefunden, die Irrtümer zu umgehen, indem sie im Zweifelsfall einfach das Gegenteil dessen tat, was ihr Gefühl ihr eingab. Sie zog sich den Tisch mit dem Obduktionsbesteck heran und deckte es auf. Eigentlich war das nicht ihr Job, aber ihre Assistentin war über der unbeseelten Materie, mit der sie täglich zu tun hatte, schwanger geworden. Und zwar in einer Weise, die sie in ständige Nähe eines Brecheimers zwang. Franziska wollte nicht in den Kopf, warum einen so etwas an der Arbeit hindern sollte. Arbeit bedeutete Ablenkung, und ihretwegen hätte die Assistentin ihren Eimer ruhig mit sich herumtragen können, auf einen mehr oder weniger kam es hier nicht an. Sie erklärte es dem Bleichen eben, als das Telefon klingelte.
Es war der alte Feldwebel. Vermisstenanzeige, Beschreibung, Ehefrau, Identifizierung. Mist. Franziska knallte den Hörer auf die Gabel.
»Damenbesuch«, sagte sie und zog dem Toten das Tuch vom Gesicht. Na ja, so schön war er nun auch wieder nicht. Seine Lippen, ja. Aber unter dem Bartschatten zeigte sein Kinn eine deutliche Neigung zum Hängen, und wie es aussah, waren ihm als Kind die Ohren angelegt worden. Als sie so weit war, stutzte sie plötzlich. Sie betrachtete die feinen Narben noch einmal genauer. Die rechte war kürzer als die linke. Sie sah dem Toten auf den Mund. In ihrem Gedächtnis begann etwas
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