Katzenmond
Gedanken schweiften weiter zu Liebermann. Es interessierte ihn, was ihn mitten in der Nacht auf den Balkon seinerFreundin getrieben hatte. Im Stillen hoffte Serrano, dass es die blaue Tüte war, aber viel Hoffnung hatte er nicht. Er hatte schon gemerkt, dass Erkenntnisprozesse bei Liebermann nur verzögert in Gang kamen. Auch er selbst durfte die Tüte über dem Dreigekochten nicht vergessen. Mit diesem Vorsatz schlief Serrano ein.
9
Pünktlich zum Wochenende kam der Sommer noch einmal zurück.
Aus diesem Grund beschloss Laura spontan, das Samstagsfrühstück auf den Balkon zu verlegen. Im Hof unten wetteiferten Goldregen und von Ralph gesäte Sonnenblumen um das sattere Gelb, die alte Krebs aus dem Erdgeschoss ruderte brabbelnd mit einem Korb Wäsche über den Rasen, und hinter der Mauer zum Nachbarhof stellten Kinder die Holzklötze eines Kubb-Spiels auf. Laura stützte sich auf die Balkonbrüstung und gab sich eine Minute dem Glück hin, einen Morgen wie diesen, in einem Viertel wie diesem, mit einem Mitbewohner wie David, der ihr von seiner morgendlichen Joggingrunde einen Topinamburstängel mitgebracht hatte, über aufgebackenen Brötchen und Kaffee zu verbringen. David hatte sogar einen Prosecco aus seinem Zimmer gezaubert, der jetzt im Kühlschrank auf Trinktemperatur herunterkühlte, während er unter der Dusche stand. Im Gegenzug hatte Laura ihm Frühstückslektüre organisiert.
Als er ein paar Minuten später mit feuchten Haaren auf dem Balkon erschien, fiel sein Blick auf die zusammengerollte Zeitung.
»Service des Hauses«, sagte Laura. »Ich hab sie der Krebs aus dem Kasten geklaut.«
»Sie wird dich dafür erdolchen.«
»Kaum. Sie fragt mich dauernd, wer ihr diesen Mist in den Briefkasten stopft. Ich glaube, sie hat längst vergessen, dass sie Abonnentin ist.«
»Fairerweise sollten wir sie überreden, das Abonnement zu kündigen.« David griff nach einem Brötchen. Ein Wassertropfen löste sich aus seinen Haaren und fiel in seine Tasse. Lauraträumte den zarten Ringen hinterher, die er im Kaffee hinterließ, und wünschte, dass dieser Morgen nie enden möge.
Nach dem Essen teilten sie sich die Zeitung. David vertiefte sich in die Kulturbeilage, während Laura sich den Lokalteil vornahm. Lieber hätte sie noch ein wenig geplaudert, worüber, war ihr im Grunde egal, es reichte ihr völlig, Davids Stimme zu hören und sich dabei in seinen Sommersprossen zu verlieren. Als sein Gesicht hinter der Zeitung verschwand, spürte sie Entzugserscheinungen.
Verdrossen senkte sie den Blick auf einen Bericht über Riesenkürbisse. Nach ein paar Zeilen sprang sie zum Umbau eines Jugendklubs, kurz darauf zu den Polizeiberichten und stutzte. »Hier steht was über den Haveltoten. Wie’s aussieht, haben sie ihn identifiziert.«
Davids Gesicht blieb hinter der Zeitung verborgen. Erst nach einigen Sekunden faltete er sie zusammen. Er war blass. »Scheiße«, murmelte er. »Aber wenigstens haben sie es nicht von mir.«
Es beeindruckte Laura immer wieder, wie ernst David seine diversen Jobs nahm. Obgleich sie fand, dass er es manchmal ein bisschen übertrieb. Ob die Direktorin der Aphrodite ihm ein Schweigegelübde abgenommen hätte, hatte sie ihn einmal im Spaß gefragt. Oder ob dort derart erschütternde Dinge vor sich gingen, dass man gut daran tat, die Leute im Viertel damit zu verschonen. Dabei hatte sie an die Krämerin Tante Lehmann gedacht, die beim Abkassieren vor Neugier jedes Mal beinahe über die Theke kippte, seitdem David bei ihr wohnte.
Seine Aufgabe sei nicht die Befriedigung voyeuristischer Neigungen seiner Nachbarn oder Mitbewohnerinnen, hatte er bissig erwidert.
Nach diesem Zwischenfall hatte Laura sich sicherheitshalber jeder Kritik an seiner ungewöhnlichen, aber, zugegeben, ehrenhaften Diskretion enthalten. Außerdem brach er sein Schweigenzuweilen. Dank dieser Unterbrechungen kannte sie sich in der Aphrodite inzwischen recht gut aus, zumindest in den Bereichen, in denen David verkehrte, also den Massageräumen. Er bestand darauf, dass die Schule genau das war, was sie zu sein vorgab: eine Bildungseinrichtung für Frauen mit Schwerpunkt Liebeskunst, Betonung auf Kunst. Auf nähere Schilderungen der Ausbildung hatte er sich zu ihrem Leidwesen nicht eingelassen, ebenso wenig wie auf Details über seinen Zweitjob.
Während sie eine Brötchenhälfte butterte, schwammen ihre Gedanken zu der Leiche, die die Polizei, kaum einen halben Kilometer von ihrem Haus entfernt, aus der Havel gefischt
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