Katzenmond
Seine Frage erntete, wie erwartet, Tränen. Knut sei in der letzten Zeit vielleicht etwas ruhiger als sonst gewesen, schluchzte Vivian. Und sehr zärtlich.
»Meinen Sie mit ›ruhig‹ in sich gekehrt?«, fragte Liebermann.
»Das war er manchmal. Aber er war sehr zärtlich.« Bei der doppelten Erwähnung von Kaisers Zärtlichkeit merkte Liebermann auf. Es klang fast, als zählte Zärtlichkeit normalerweise nicht zu den herausstechenden Eigenschaften des Internisten. Müller bat mürrisch um ein Glas Wasser, worauf David sich erhob und in der Küche verschwand. Während seiner Abwesenheit erkundigte sich Liebermann bei der Witwe nach ihren Beschäftigungen vom Mittwoch und erfuhr, dass sie die Praxis gegen elf verlassen hatte, um mit Lucy an einer Sprachstudie teilzunehmen. Nach dem Test waren sie nach Hause gefahren und dort geblieben. Von einem Geschäftsessen war ihr nichts bekannt. Aber Knut hatte überlegt, zur Quartalsversammlung des städtischen Apothekerverbandes zu gehen, wo neue Medikamente vorgestellt werden sollten. Deshalb hatte sie sich über sein Ausbleiben am Abend nicht sonderlich gewundert, sondern war, wie immer, gegen zehn ins Bett gegangen. Erst am nächsten Morgen war sie unruhig geworden. Manchmal joggte Knut vor dem Frühstück eine Runde, aber die Turnschuhe hatten im Schrank gestanden, in der Praxis war niemand ans Telefon gegangen und an sein Handy nur die Mailbox. Sie hatte Lucy zum Kindergarten gebracht und vorsichtshalber Herrn Kühn angerufen.
»Womit wir wohl auf meine Rolle in der Geschichte kommen«, sagte David und knallte ein Glas auf den Tisch. Vivian schlug die Augen nieder.
Lächelnd lehnte Liebermann sich zu Müller hinüber, der aussah, als hätte er gerade bemerkt, dass er in einen falschen Bus gestiegen war. »Ist Ihr Stift an Ort und Stelle, Oberkommissar?« Ein tiefes Grollen, wie aus dem Inneren eines Berges. »Dann los!«
Der plötzliche Startschuss warf David ein wenig aus der Bahn. »Los, womit?«
»Mit Ihrer Aufgabe hier im Hause. Ich stelle mir vor, ich wäre Frau Kaiser und hätte Zweifel an der Treue meines Mannes. Was würde ich also tun, wenn ich keine Lust hätte, ihm in meinem Argwohn hinterherzuschleichen, nachdem er zum Beispiel gerade zur dritten Apothekerkonferenz des Monats aufgebrochen wäre? Ich würde mir jemanden suchen, der es an meiner Stelle für mich tut. Sind Sie bei einer Detektei gemeldet?«
David sah ihn beleidigt an. »Nein. Frau Kaiser hat mich gefragt, weil wir uns kennen. Sie wollte nicht, dass die Sache Wellen schlägt, und außerdem wusste sie, dass ich, na ja … Gott, dass ich im Moment etwas klamm bin, eben.«
Ein Ohr beim monotonen Schaben von Müllers Kugelschreiber, lehnte Liebermann sich zurück. »Woher kennen Sie sich?«
»Wir stammen aus demselben Ort. Kennen Sie Perleberg?« Liebermann fiel auf, dass David das »Sie« abfällig betonte. »Ich glaube, ich bin schon einmal durchgefahren.«
»Dann haben Sie sicher bemerkt, dass es recht überschaubar ist.«
»Verstehe. Besonders für Angehörige einer Generation.« Liebermann versuchte, Vivian Kaisers Alter zu schätzen. Ende zwanzig, vielleicht etwas jünger, es kam hin. »Discos und Cliquen, Schule«, tippte er.
David zuckte die Achseln. »Man verbringt die Jugend miteinander,dann wird man erwachsen und geht seiner Wege. Unsere haben sich zufälligerweise hier wiedergetroffen.«
»Es ist sicher schön, an einem fremden Ort alten Bekannten zu begegnen.«
»Klar.«
»Und bei dieser Gelegenheit hat Frau Kaiser Ihnen von ihren ehelichen Sorgen erzählt?«
»Da noch nicht. Wir haben Kaffee getrunken und Erinnerungen gewälzt. Ein paar Tage später hat sie mich angerufen, weil sie einen Aushang über ein WG-Zimmer in der Brandenburger Vorstadt gesehen hatte. Ich hatte ihr erzählt, dass ich eine billige Unterkunft in einem Gentrifizierungsviertel suche, was natürlich eigentlich ein Widerspruch in sich ist. Dieses Zimmer war ein absoluter Glücksfall. Ich hab Viv zum Dank auf einen Wein eingeladen. Tja, und dabei kam sie dann damit heraus.« Er sah besorgt zur Witwe hinüber, deren Augen an Müllers Block hingen. »Ursprünglich wollte ich Viv nur einen Gefallen tun und Kaiser mal bei einem seiner Hausbesuche nachschleichen. Aber Viv hat darauf bestanden, einen Job daraus zu machen. Sie meinte, sie hätte dann ein weniger mieses Gefühl dabei. Nebenbei wollte sie mir vermutlich helfen, mein Budget ein bisschen aufzustocken, ohne dabei an meinem Stolz zu kratzen. So ist
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