Katzensprung
Opfers verstärkt werden. Der Bereich um
den Tatort sollte noch einmal weiträumig und gründlich nach Ramona Wenklers
iPhone abgesucht werden. Neben Olga und Josef Lepple würden zwei weitere Teams
in der Schule und in den Jugendeinrichtungen recherchieren.
Fischbein nickte die Vorschläge ab, nicht ohne noch einmal die
Ungeduld der zuständigen Staatsanwältin Thekla Braun zu beklagen, die unwillig
wurde, wenn nicht jede Todesermittlung innerhalb der berühmten zweiundsiebzig
Stunden, nach denen die Aufklärungschancen für ein Tötungsdelikt rapide sinken,
abgeschlossen war.
Beim Aufbruch bückte sich Olga nach ihrer Tasche, dabei fiel ihre
Haarspange zu Boden, und sie richtete sich mit ihrer offenen
Weihnachtssternfrisur auf. Fischbein stutzte beim Hinausgehen, hinter den
Gläsern blitzte ein anerkennender Blick hervor.
»Donnerwetter, Frau Popovich, so einen verrückten Schnitt habe ich
ja noch nie gesehen.«
Bauer grinste, Olga lief dunkelrot an und wünschte sich,
verschwinden zu können wie Jeannie in der Flasche. Schnell band sie die Haare
wieder zusammen.
»Lassen Sie nur, lassen Sie nur«, säuselte Fischbein, »gönnen Sie
Ihren Kollegen doch ruhig mal einen erfreulichen Anblick.«
Chaos
Olga hatte am Samstag lange geschlafen und war in der
Stadt gewesen, um sich ein paar Wintersachen zu kaufen. Am Nachmittag las sie
in der Zeitung eine Todesanzeige für Ramona Wenkler, deren Leiche von der
Staatsanwaltschaft freigegeben worden war und nun beerdigt werden konnte. Die
Anzeige war von Ramonas Schwester Gisela Reiners und vom Lehrerkollegium der
Hauptschule Wichlinghausen unterzeichnet, namentlich von Rektor Jens Brinkmann.
Die Beerdigung sollte am Dienstag um zehn stattfinden, Olga notierte sich den
Termin.
Die Woche war anstrengend gewesen, und sie freute sich auf ein
gemütliches Abendessen mit Tülay, die türkisch kochen wollte. Sie hatten Tülays
Bruder Hakan, der seine Trennung noch nicht überwunden hatte, eingeladen, und
nach zehn Uhr wollte auch Max dazukommen, der bis dahin Babydienst hatte. Die
Zwillinge seien gerade sehr anstrengend, hatte er am Telefon gestöhnt, sie
fingen an, sich im Bettchen hochzuziehen, und August sei am Vormittag über das
Gitter gestürzt. Er habe sich eine Beule am Kopf geholt und eine Stunde wie am
Spieß geschrien, Carl habe natürlich mitgebrüllt.
»Sie werden jetzt an die Leine gelegt, ich habe Gurte besorgt«,
hatte Max gesagt, »heute fange ich an, sie dran zu gewöhnen. Sie werden
ordentlich Theater machen.«
Bevor er sich über seinen konsequenten Erziehungsstil auslassen
konnte, hatte Olga ihn abgewürgt.
Sie kochte Tee und machte es sich auf dem Sofa bequem, um sich in
Ruhe Ramona Wenklers Tagebuch vorzunehmen, das sie bis dahin nur überflogen
hatte. Die Seiten der dicken, abgegriffenen Kladde waren eng beschrieben und
mühselig zu entziffern. Olga las sich in die fahrige Handschrift ein, die
Eintragungen waren chaotisch und meistens nicht datiert, oft kaum leserliche
Satzfetzen ohne Zusammenhang. Die erste Eintragung stammte aus dem Jahr 2006.
Der Typ ist schnuckelig, ganz
schüchtern. Er scheint anzuspringen. Ich stand am Billardtisch, und er kam ganz
nah, dem fielen die Augen aus dem Kopf. Nette Jungs da in Solingen, süß, die
kleinen Türken und Araber. Morgen gehen wir in die Disco. Die Pute hat’s
mitgekriegt, wie die geguckt hat. Sie pfeifen, wenn ich vorbeigehe, geile
Betreuerin, sagen sie. Wollen zweimal in der Woche proben kommen, reden von
Auftritt. Ramona soll singen, hat Ali gesagt.
Alles nur kleine Scheißer, was soll’s.
Proletentruppe, primitive muslimische Schwachköpfe. Diese Feindseligkeit. Sie
haben mich auf der Tanzfläche eingekreist und gemurmelt: Ya shara,
sharmuta, shlika, immer und immer wieder. Sie kamen ganz
nahe und haben ausgespuckt, sie rochen nach Schweiß und Sperma, es ist mir
hochgekommen.
Der neue Praktikant ist goldig, hat mir den
Stuhl hingeschoben und den Vortritt gelassen. Ich habe ihn gefragt, ob er in
der Theater- AG Regieassistenz machen will. Hat genickt und ist ganz rot geworden. Ein
Herzchen, ich glaube, er schwärmt für mich.
Kopfschmerzen, Kopfschmerzen, Kopfschmerzen,
Kopfschmerzen. Ich habe Messer im Schädel, alles verschwimmt, ich kotze nur
noch. Ich gehe nicht mehr in den Laden, lass mich krankschreiben. Diese
Schwuchtel von Amtsleiter. Erst glotzt er sich die Augen aus dem Kopf und macht
Komplimente, dann Pünktlichkeit und Ordnung. Spießer, der kann mich mal, ich
such mir was anderes.
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