Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch
Bibliothek von Croyden herumgestöbert, und ohne die Bildunterschrift hätten wir Miss Lasqueti nicht erkannt. Als wir den Artikel lasen, gegen Ende der fünfziger Jahre, war ihr Begleiter auf dem Foto, Juliusz Grusza, als Olympiamedaillen-Gewinner eine nationale Berühmtheit und außerdem ein wichtiger Mann in Whitehall, einem Ort, mit dem Miss Lasqueti angeblich in Verbindung stand. Hätten Ramadhin und ich gewusst, wie wir mit Cassius Kontakt aufnehmen könnten, hätten wir ihm eine Kopie von diesem vorolympischen Porträt geschickt.
Für unsere Begriffe war sie keine schöne Frau gewesen. Wenn sie uns attraktiv erschien, dann lag es an den unterschiedlichen Facetten, die wir an ihr entdeckten. Sie war anfänglich nur aus vorsichtiger Schüchternheit so zurückhaltend gewesen. Und dann war es, als stieße man bei einem Dorfjahrmarkt auf eine Kiste mit kleinen Füchsen. Der Name Lasqueti ließ einen europäischen Hintergrund erahnen, aber sie kam gut zurecht mit der speziellen Rasse gärtnerisch ambitionierter englischer Aristokraten.
Mit den vielfältigen Ausformungen englischer Exzentrik war sie zweifellos vertraut. Beispielsweise verblüffte sie uns am Katzentisch bei einem Gespräch über das Wandern mit der Mitteilung, sie kenne Wanderer (darunter einen entfernten Cousin), die auf ihren Querfeldeinmärschen am Wochenende nur Socken und Wanderstiefel und einen Rucksack trugen. So stapften sie durch Wälder und Wiesen und durchwateten Lachsflüsse. Wer ihnen begegnete, wurde ignoriert, als wäre er unsichtbar, so wie sie es umgekehrt für sich selbst erwarteten. Wenn sie sich in der Abenddämmerung einem Dorf näherten, zogen sie sich rechtzeitig an, betraten einen Gasthof, aßen allein zu Abend und nahmen ein Zimmer.
Diese Information, die wir sofort zu einem deutlichen Bild verarbeiteten, löste an unserem Tisch allgemeines Schweigen aus. Die meisten Passagiere waren belesene Asienveteranen, die ihre von Jane Austen und Agatha Christie bezogenen Vorstellungen von englischen Gepflogenheiten mit diesen nackten Wanderern nicht recht in Einklang bringen konnten. Die kuriose und eigentlich deplazierte unerwartete Anekdote war das erste, was Miss Lasquetis Image als alte Jungfer, das sie uns zunächst präsentiert hatte, veränderte. Das Schweigen an unserem Tisch hielt an, bis Mr. Mazappa das Gespräch wieder auf die unerklärlichen Gesichter der Madonnen lenkte, von denen sie vorher gesprochen hatte.
»Das Problem mit all diesen Madonnen«, sagte er, »besteht darin, dass das Kind gestillt werden muss und die Mütter Brüste wie Blasen in Form von panini , von Brötchen, entblößen. Kein Wunder, dass die Babys wie griesgrämige Erwachsene aussehen. Ich kenne nur ein einziges Bild, auf dem das Kind wirkt, als würde es gut ernährt und als würde es die Milch mit Genuss trinken. Es befindet sich in La Granja, der königlichen Sommerresidenz in der Nähe von Segovia, ein ganz kleiner Wandteppich, und die Madonna blickt nicht in die Zukunft. Sie sieht das Jesuskind an, das zufrieden trinkt.«
»Sie sprechen, als wüssten Sie über das Thema Stillen Bescheid«, sagte einer unserer Tischgenossen zu ihm. »Haben Sie Kinder?«
Nach einer winzigen Pause sagte Mazappa: »Ja, natürlich.«
»Ich freue mich ja so, dass Sie Wandteppiche mögen«, unterbrach Miss Lasqueti das neue Schweigen, das nach diesen Worten eingetreten war. Mr. Mazappa sagte nichts weiter. Weder wie viele Kinder er hatte noch wie sie hießen. »Ich frage mich, wer den Wandteppich gewebt haben mag. Vielleicht war es eine Frau, die im Mudejarstil arbeitete. Falls der Wandteppich aus dem fünfzehnten Jahrhundert stammt. Ich werde es in London nachschlagen. Ich habe eine Zeitlang für jemanden gearbeitet, der solche Dinge sammelte. Er hatte einen guten Geschmack, aber er war ein harter Brocken. Allerdings habe ich bei ihm gelernt, Tapisserien zu schätzen. So etwas von einem Mann zu lernen ist überraschend.«
Wir lauschten diesen Enthüllungen begierig. Wer mochte dieser »harte Brocken« sein? Und der entfernte Cousin, der Wanderer? Unsere alte Jungfer schien über wesentlich mehr Dinge Bescheid zu wissen als nur über Taubenhaltung und Zeichnen.
VOR EINIGEN JAHREN ERHIELT ich in meinem gegenwärtigen Leben eine Sendung, die in Whitland in Carmarthenshire aufgegeben und von meinem englischen Verleger an mich weitergeleitet worden war. Sie enthielt mehrere Farbfotokopien von Zeichnungen und einen Brief Perinetta Lasquetis. Den Brief
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