Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch
eine ähnliche Melodie. Das hier musste ein herrliches Gefühl für die Frau gewesen sein nach all den schrecklichen Stunden in der Hitze ihrer Kabine.
SCHULHEFT, EINTRAG NR. 30:
(BISHER) VOM KAPITÄN DER O RONSAY
BEGANGENE VERBRECHEN
1. Mr. de Silvas Tod durch Hundebiss.
2. Keine Sicherheitsmaßnahmen für Kinder bei einem gefährlichen Sturm.
3. Ungehörige und unflätige Ausdrücke in Gegenwart von Kindern.
4. Zu Unrecht erfolgte Entlassung von Mr. Hastie, Oberhundeaufseher.
5. Aufsagen eines beleidigenden Gedichts am Ende eines Diners.
6. Verlegen der wertvollen Bronzestatue von Mr. de Silva.
7. Verlust eines preisgekrönten Weimaraners.
Miss Lasqueti: ein zweites Porträt
VOR EINIGER ZEIT saß ich in einer Meisterklasse des Filmemachers Luc Dardenne. Er erklärte, die Zuschauer seiner Filme sollten nicht denken, sie wüssten alles über die Personen. Wir, das Publikum, sollten uns nie für klüger halten als die Figuren; wir hätten nicht mehr Einsicht in die Figuren als sie selbst. Wir sollten uns nicht einbilden, über ihre Motive Bescheid zu wissen, und wir sollten uns nicht überlegen vorkommen. Das glaube ich auch. Für mich offenbart sich darin ein Grundprinzip der Kunst, obwohl ich fürchte, dass viele das anders sehen.
Am Anfang hatten wir Miss Lasqueti für eine altjüngferliche und vorsichtige Person gehalten. Die Welten, von denen sie erzählte, interessierten uns nicht. Sie begeisterte sich für Abreibungen von Bronzeplaketten und für Tapisserien. Doch dann hatte sie uns verraten, dass sie für zwei Dutzend Brieftauben verantwortlich war, die irgendwo auf dem Schiff untergebracht waren und die sie »für einen Krösus übers Meer brachte«, einen ihrer Nachbarn in Carmarthenshire. Wozu benötigte ein Krösus Brieftauben, fragten wir uns. »Für den Fall einer Funkstille«, hatte ihre rätselhafte Antwort gelautet. Als wir später von ihrer Verbindung zu Whitehall erfuhren, wurde uns die Sache mit den Tauben klarer. Der Krösus war eine Erfindung gewesen.
Doch damals interessierte uns am meisten die Zuneigung, die Miss Lasqueti unserer Meinung nach zu Mr. Mazappa empfand. Ihr zunehmendes Interesse an dem Gefangenen und an den zwei Polizeibeamten (einer noch immer unerkannt), die Niemeyer nach England begleiteten, fiel uns weniger auf. »Der Gefangene ist einfach mein Gepäck«, hatte Mr. Giggs einer Gruppe seiner Bewunderer beim Abendessen erklärt, indem er seine Führungsrolle mit gespielter Bescheidenheit herausstellte. Doch worin bestand Miss Lasquetis »Gepäck«? Wir wussten es nicht. War es etwas, was ich bei einem Besuch in ihrer Kabine hätte herausfinden können, als sie mit mir über meine Verbindung zu dem Baron sprechen wollte? Denn wenn es je einen ungewöhnlichen Augenblick in der Beziehung zwischen mir und Miss Lasqueti gab, dann an jenem Nachmittag, an dem ich von ihr zum Tee in ihre Kabine eingeladen worden war.
Ich wandere einen fast vergessenen Weg entlang zu diesem unvergesslichen Nachmittag. Zu meinem Erstaunen ist Emily bei ihr, als hätte Miss Lasqueti sie hergebeten, um zu zweit ein ernstes Gespräch mit mir zu führen. Tee und Kekse sind vorbereitet. Emily und ich sitzen aufrecht auf den einzigen zwei Stühlen im Zimmer, und Miss Lasqueti setzt sich auf das Fußende des Betts und beugt sich beim Sprechen vor. Die Kabine ist viel größer als meine und voller ungewöhnlicher Dinge. Neben Miss Lasqueti hängt etwas, was wie ein schwerer Teppich aussieht. Später erfahre ich, dass es eine Tapisserie ist.
»Ich habe Emily gerade gesagt, dass ich mit Vornamen Perinetta heiße. Ich glaube, es ist der Name einer niederländischen Apfelsorte.« Sie murmelt den Namen vor sich hin, als wäre er noch nicht oft genug gesagt worden. Und dann erzählt sie. Von ihrer Kindheit und Jugend, ihrer Liebe zu Fremdsprachen, wie sie in jungen Jahren in Schwierigkeiten geriet, »bis etwas passiert ist, was mir geholfen hat, mich zu retten«. Als Emily mehr darüber wissen will, sagt sie: »Das erzähle ich Ihnen ein andermal.«
Rückblickend weiß ich, dass sie diese Dinge über sich erzählt hat, um uns den Weg zu ebnen und mich vor meiner Verstrickung in die Unternehmungen des Barons zu warnen, wovon sie irgendwie Wind bekommen hatte. Emilys ernster Blick und ihr ständiges Nicken betonen die Ernsthaftigkeit dieser Ermahnungen. Aber ich höre nur mit halbem Ohr zu. Ich habe in einer Ecke des Zimmers den Blick eines anderen Gesichts entdeckt. Es ist der
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