Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch
hatte sie geschrieben, nachdem sie mich in einer Sendereihe des BBC World Service über das Thema »Jugend« hatte sprechen hören, wobei ich meine Schiffsreise nach England kurz erwähnt hatte.
Ich betrachtete zuerst die Zeichnungen. Ich sah mich als mageren Jungen, ein Porträt des rauchenden Cassius, ein schönes Porträt von Emily mit pfauenblauer Baskenmütze. Von der Emily, die danach aus meinem Leben verschwunden war. Nach und nach erkannte ich andere Gesichter wie den Purser oder Mr. Nevil und Schauplätze, die tief in meiner Vergangenheit verschüttet gewesen waren – die Freiluftleinwand am Heck des Schiffs, das Klavier im Ballsaal, an dem eine flüchtig skizzierte Gestalt saß, Matrosen bei einer Feuerwehrübung, alles mögliche. Und alle Zeichnungen stammten von unserer Reise von Colombo zum Dock in Tilbury im Jahr 1954.
Whitland,
Carmarthenshire
Lieber Michael,
bitte entschuldigen Sie diese Vertraulichkeit, aber vor langen, langen Jahren kannte ich Sie als Jungen. Neulich hörte ich Sie im Radio sprechen. Und als Sie sagten, dass Sie auf der Oronsay nach England gekommen waren, hörte ich aufmerksamer zu, denn mit diesem Schiff war ich 1954 auch gefahren. Da passte ich auf, aber ich wusste noch immer nicht, wer Sie waren. Die Stimme im Radio und Ihre Laufbahn konnte ich niemandem auf dem Schiff zuordnen, bis Sie Ihren Spitznamen »Mynah« erwähnten. Und da erinnerte ich mich an die drei Jungen, vor allem an Cassius, dem nichts entging. Und ich erinnerte mich an Emily.
Eines Nachmittags hatte ich Sie und Emily in meine Kabine zum Tee eingeladen. Ich nehme an, dass Sie sich daran nicht mehr erinnern. Warum sollten Sie auch? Ich war neugierig auf Sie alle. Vielleicht hatte das mit meiner Tätigkeit in Whitehall zu tun. Viel Abwechslung gab es nicht auf dieser Seereise, abgesehen davon, dass Sie drei ständig in irgendwelche Schwierigkeiten gerieten … Aber ich will Ihnen erklären, warum ich diesen Brief schreibe und nicht bloß herzliche Grüße schicke.
Ich habe mir seit einiger Zeit gewünscht, ich könnte mit Emily in Verbindung treten. Ich denke oft an sie. Denn es gibt etwas, was ich ihr auf jener Reise gern gesagt hätte und nicht gesagt habe. An besagtem Nachmittag ging es mir nur darum, Sie aus den Fängen des Barons zu befreien. Aber wen ich hätte befreien müssen, das war Emily. Ich hatte sie mehrmals mit dem Typ von der Jankla-Truppe zusammen gesehen, und diese Beziehung war mir nicht geheuer, erschien mir gefährlich. Ich hatte mir vorgenommen, ihr etwas zu geben, was ihr von Nutzen sein konnte, ihr helfen konnte, und habe es dennoch nicht getan. Es wäre ihr vielleicht unpassend erschienen. Es war, wenn man so will, eine künftige Erkenntnis, obwohl es eine Geschichte aus der Vergangenheit war, aus meiner eigenen Jugend. Und deshalb habe ich meine ursprüngliche Botschaft diesem Schreiben beigelegt, damit Sie sie Ihrer Cousine übermitteln können. Ich habe Emily nicht gut gekannt, aber ich hatte den Eindruck, daß sie trotz ihrer großzügigen Natur Schutz und Hilfe benötigte. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie die beiliegende Sendung an sie weiterleiten könnten.
Ich habe einige der Zeichnungen von jener Fahrt kopiert, vielleicht machen sie Ihnen Freude.
Alles Liebe
Perinetta
Es war ein zweiseitiger Brief, doch die mit Emilys Namen versehene Sendung, die ich weiterschicken sollte, war ein dicker Packen leicht vergilbter Blätter.
Ich habe sie geöffnet. Schriftsteller sind skrupellos. Ich möchte nur bemerken, dass ich Emily seit Jahren nicht gesehen hatte und nicht wusste, wo sie sich aufhalten mochte. Das letztemal hatte ich sie bei ihrer Hochzeit mit einem Mann namens Desmond gesehen, kurz bevor die beiden England verließen. Ich weiß nicht einmal mehr, in welches Land sie fuhren. Nach kurzem Zögern öffnete ich die Sendung für Emily und machte mich an die Lektüre der vielen Blätter, die mit kleiner, geneigter Handschrift beschrieben waren, als sollte die Schrift das Private und Intime des Briefs betonen. Und beim Lesen merkte ich, dass es um den Zwischenfall in Miss Lasquetis Vergangenheit ging, auf den sie an dem Nachmittag angespielt hatte, als ich sie in ihrer Kabine besucht und Emily dort angetroffen hatte. Irgendwann hatte Emily Miss Lasqueti gefragt, was sie mit ihren Worten über einen früheren Zeitpunkt in ihrem Leben gemeint hatte, der ihr ermöglicht habe, sich zu retten. Und Miss Lasqueti hatte gesagt: »Das erzähle ich Ihnen ein
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