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Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Titel: Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ondaatje
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Blick einer Statue, die wie eine Kleiderpuppe aussieht und über deren nackte Schultern und Arme ein paar Kleidungsstücke Miss Lasquetis drapiert sind. Während sie spricht, erkenne ich auf dem Alabasterbauch eine Narbe, die aussieht, als wäre sie vor nicht allzu langer Zeit darauf gemalt oder gezeichnet worden. Doch der Blick ist es, der mich auskundschaftet, mich offen ansieht, als wäre er schutzlos. Die Statue sieht aus wie eine jugendliche und weniger beherrschte Miss Lasqueti, allerdings mit einer Wunde. Erst jetzt, da ich dies schreibe, kommt mir die Erkenntnis, dass es sich um die Statue eines Bodhisattva gehandelt haben könnte. Ich frage mich, diese weltliche, duldende Miene … Miss Lasqueti redet weiter. Und wenn mein Blick an diesem Nachmittag von ihr abgewendet blieb, während sie von meiner Verbindung zu dem Baron sprach, dann lag es nur daran, dass ich von dem verstehenden Blick der Figur so gebannt war. Vielleicht hatte sie absichtlich auf dem Bett Platz genommen, damit die Figur mir hinter ihr hervor ein Zeichen geben konnte.
    Später, als wir aufbrachen, brachte sie die Sprache auf das, was mich beschäftigt hatte, und hob das beinahe durchsichtige Stück Stoff an, das den Schnitt im Fleisch bedeckt hatte.
    »Siehst du? Über solche Dinge kommt man im Lauf der Zeit hinweg. Man lernt, sein Leben zu ändern.«
    Der Satz sagte mir damals nichts, aber an ihre Worte erinnere ich mich noch immer. Und ich sah die täuschend echte Wunde aus der Nähe, bevor der Stoff sie wieder bedeckte. Alles war deutlich zu sehen.
     
    Miss Lasqueti hatte eine Autorität, die ich ihr nicht zugetraut hätte. Rückblickend glaube ich, dass sie den Baron dazu überredet hat, in Port Said das Schiff zu verlassen, mit der Drohung, ansonsten seine Umtriebe zu entlarven. Und dann gab es eine so unwirkliche Situation, dass man sie fast für eine Traumerinnerung halten könnte, als Cassius oder ich eines Abends auf sie zugingen. Es war in der Dämmerung, und wer immer von uns beiden es war, bildete sich ein, sie mit einem Zipfel ihrer Bluse etwas putzen zu sehen, was wie eine kleine Pistole aussah. Das war ein Beweis von Schneid, der nicht ganz in unser Bild von ihr passte. Als Kinder phantasierten und glaubten wir alles mögliche. Wir wussten, dass Miss Lasqueti uns gern hatte. Mehrere Nachmittage lang gab sie sich mit Cassius ab, der sich für ihre Skizzen interessierte. Sie war eine gute Zuhörerin.
    Ein weiterer Zwischenfall stellte für uns die Verbindung zu der Pistole her, die wir gesehen haben wollten. An einem der Nachmittage, die Cassius mit Miss Lasqueti verbrachte, lieh sie ihm einen Füllfederhalter. Er dachte nicht mehr daran, bis er nach dem Abendessen den Füller in seiner Hosentasche spürte. Er ging zu Miss Lasqueti, die sich am Tisch angeregt mit jemandem unterhielt, ihre Handtasche auf dem Stuhl neben sich. Cassius beugte sich vor und wollte den Füller in die Tasche tun, um nicht zu stören, doch Miss Lasqueti streckte ihren nackten Arm aus, ergriff seine Hand, die den Füller hielt, und nahm ihn an sich. Sie hatte sich nicht einmal nach Cassius umgedreht. »Danke, Cassius. Ich habe ihn«, sagte sie und setzte ihr Gespräch fort.
    Für uns war das ein weiterer Beweis.
    Trotz ihrer Überzeugungen war sie nie voreingenommen. Ich glaube, der einzige Mensch, der ihr unentwegt auf die Nerven ging, war Mr. Giggs, den sie für einen Prahlhans hielt. Sie sagte, er gebe dauernd mit seinen Schießkünsten und seiner Treffsicherheit an. Erst viel später sollte sich herausstellen, dass Miss Lasqueti selbst »treffsicher« war, als wir auf ein Foto der jungen Perinetta Lasqueti stießen, die bei den Bisley-Wettkämpfen die beste Punktzahl errungen hatte und sich lachend mit dem polnischen Kriegshelden Juliusz Grusza unterhielt, der später im Fünfzig-Meter-Schießen mit der Schnellfeuerpistole England bei den British Empire Games vertreten sollte. In dem Artikel über Grusza waren Miss Lasquetis herausragende Leistungen erwähnt, obwohl einer möglichen Romanze zwischen dem Paar auf dem Foto mehr Platz eingeräumt wurde. Sie trug eine Jacke mit Pepitamuster, und die Sonne schien auf ihre blonden Haare, und wir hatten ein Gegenbild zu der blassen Jungfer, die auf der Oronsay zeichnete und ab und zu ein Buch über Bord warf.
    Ramadhin hatte den Zeitungsartikel und das Foto entdeckt, als wir beide in England lebten. Er fand sie in einer alten Ausgabe der Illustrated London News. Wir hatten beide in der öffentlichen

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