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Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Titel: Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ondaatje
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andermal.«
     
    Als ich Mitte Zwanzig war, ging ich nach Italien, um die Sprache zu studieren. Ich lernte Sprachen schnell, und Italienisch mochte ich am liebsten. Irgend jemand empfahl mir, mich in der Villa Ortensia nach Arbeit zu erkundigen. Ein reiches amerikanisches Ehepaar – Horace und Rose Johnson – hatte die Villa gekauft und verwandelte sie gerade in ein großes Kunstarchiv. Sie luden mich zu einem zweiten Vorstellungsgespräch ein und stellten mich als Übersetzerin an, für Korrespondenz, Recherchen und Katalogisieren. Ich kam jeden Tag mit dem Fahrrad zur Villa, arbeitete sechs Stunden lang und fuhr zu dem winzigen Zimmer zurück, das ich in der Innenstadt gemietet hatte.
    Das Ehepaar hatte einen siebenjährigen Sohn. Er war ein liebenswerter und lustiger Junge. Er sah gern zu, wie ich außer Atem mit dem Fahrrad ankam, denn ich war fast immer zu spät dran. Er stand neben der steinernen Toreinfassung am Ende der zypressengesäumten langen Auffahrt zur Villa. Jeden Tag gegen neun Uhr oder kurz danach kam ich die vierhundert Meter der Einfahrt entlang, und er winkte mit beiden Armen und tat so, als sähe er auf eine Uhr an seinem dünnen Armgelenk, um die Zeit zu messen. Eines Tages fiel mir auf, dass er mich nicht als einziger beobachtete, als ich mit meinem langen grünen Schal um den Hals und mit einer Schultasche über der Schulter angeradelt kam. Im ersten Stockwerk des Gebäudes hinter ihm stand eine Gestalt am Fenster; als ich das steinerne Tor erreichte, verschwand sie. Ich hatte nicht erkennen können, wer es war. Am nächsten Tag sah ich dieses auffällige Gespenst wieder, und ich winkte ihm zu. Danach sah ich die Gestalt am Fenster nie wieder.
    Die Arbeit in unserem Institut war anstrengend und schwierig. Gemälde, Tapisserien und Skulpturen trafen pausenlos ein und mussten katalogisiert werden. Und daneben galt es die Gärten neu zu gestalten, denn Mrs. Johnson wollte, dass die ursprüngliche Anlage aus der Medici-Zeit wiederhergestellt wurde. In den Fluren und auf den Terrassen herrschte geschäftiges Hin und Her, die Gärtner, die von großen Anwesen in ganz Europa hergekarrt worden waren, lieferten sich lautstarke Auseinandersetzungen, und wir, die Dolmetscher und Übersetzer, eilten hinzu und halfen, Ansichten und Ärgernisse mitzuteilen.
     
    Horace und Rose Johnson erschienen hin und wieder, wie Götter. Sie schlenderten in unsere Arbeitsräume oder waren plötzlich nach Neapel oder sogar nach Fernost abgereist. Ihre Besuche spielten sich ganz anders ab, als wenn ihr Sohn Clive bei uns auftauchte. Er kam herein wie eine kleine Muschel, die zufällig herbeirollt, und oft wurden wir uns seiner Anwesenheit erst nach einiger Zeit bewusst. Einmal kam ich die Treppe in der Großen Rotunde hinunter und sah ihn auf dem Boden kauern und das Bild eines Hundes in dem Laub auf dem unteren Teil eines der Wandteppiche bürsten: Verdüre mit Hund hieß die Tapisserie. Flandrisch, sechzehntes Jahrhundert. Ich liebte diesen Wandteppich. Er verlieh dem großen runden Saal Wärme und Menschlichkeit. Jedenfalls hatte der Junge irgendwo eine Hundebürste aufgetrieben und bürstete liebevoll das Fell des Hundes. Es war eine empfindliche Tapisserie, ein Meisterwerk der Webkunst der Niederlande.
    »Sei vorsichtig, Clive«, sagte ich. »Das ist sehr wertvoll.«
    »Ich bin vorsichtig«, sagte er.
    Es war Sommer, der Junge hatte keinen eigenen Hund in der Villa, obwohl das Anwesen riesengroß war. Die Eltern waren nicht da; einer von ihnen war auf dem Weg nach Khartoum, aus welchem Grund auch immer, vielleicht um irgendein Kunstwerk zu erwerben. Ich dachte mir, dass die Abwesenheit des Vaters dem siebenjährigen Jungen wie ganze Jahrhunderte vorkommen musste, und ich fragte mich, was ihm seine Umgebung bedeutete. Ein Kind betrachtet eine Aussicht oder ein Bild und sieht dabei etwas völlig anderes als der Vater. Der Junge sah den Hund, den er nicht hatte. Weiter nichts.
    Die meisten Tapisserien in der Villa waren symbolisch befrachtet, und die religiösen Darstellungen strotzten nur so von Bedeutung und Gleichnissen. Die Wandteppiche mit weltlichen Themen (zu denen Verdüre mit Hund zählte) hatten das irdische Paradies zum Sujet oder die gefährliche oder auch beseligende Macht der Liebe, meistens durch Jagdszenen versinnbildlicht. Der Hund auf der Tapisserie war ein Jagdhund für die Schwarzwildjagd. Auf anderen Tapisserien sah man einen Falken, der an einem wolkenlos blauen Himmel eine Taube überwältigte

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