Kay Scarpetta 16: Scarpetta
Strichjunge, die kein Sperma zurückgelassen haben. Was wissen wir über das Privatleben der Menschen, bevor sie bei uns landen? Deshalb bin ich nicht bereit, mich voreilig auf Mord, Selbstmord oder Unfall festzulegen. Nicht, ehe ich nicht alle Fakten kenne. Ich mag nämlich keine Überraschungen, nachdem ich mich entschieden habe. Wie Sie dem Laborbericht bestimmt entnommen haben, wurde kein Sperma sichergestellt.«
»So etwas kommt öfter vor«, wandte Scarpetta ein. »Es ist gar nicht so selten, wie Sie glauben. Außerdem werden Gleitmittel häufig auch bei Sexualverbrechen verwendet. K-Y, Vaseline, Sonnencreme, ja, sogar Butter. Ich könnte die Liste noch lange fortsetzen.«
Sie folgten Dr. Lester einen weiteren Flur entlang, der noch aus einer Zeit stammte, in der Forensiker als Leichenmetzger bezeichnet wurden. Es war noch gar nicht so lange her, dass man bei der Untersuchung einer Leiche nur die Blutgruppe bestimmt, ihr die Fingerabdrücke abgenommen und sie geröntgt hatte.
»Kein Hinweis auf Samenflüssigkeit in oder auf ihrem Körper oder auf der in der Badewanne gefundenen Kleidung«, fuhr Dr. Lester fort. »Auch nicht am Tatort. Selbstverständlich wurden UV-Lampen benutzt. Ich habe die Überprüfung wiederholt. Nichts leuchtete fluoreszierend, wie es bei Sperma normalerweise der Fall ist.«
»Manche Vergewaltiger verwenden Kondome«, entgegnete Scarpetta. »Insbesondere heutzutage, weil jeder über DNA Bescheid weiß.«
Datenbruchstücke rasten in atemberaubender Geschwindigkeit über dunkle Bildschirme und verbanden sich miteinander, als befanden sie sich auf der Flucht und würden wieder eingefangen.
Vielleicht gewöhnte Berger sich ja allmählich an den Cyberspace, denn die Kopfschmerzen waren auf wundersame Weise wie weggeblasen. Vielleicht war Adrenalin das Heilmittel Berger war wütend, denn sie duldete keinen Widerspruch. Nicht von Morales. Und schon gar nicht von Lucy.
»Wir sollten endlich mit den E-Mails anfangen«, sagte sie, und zwar nicht zum ersten Mal seit Marinos Anruf.
Lucy schien sich nicht im Mindesten für Marino und seine Ermitllungsergebnisse zu interessieren und achtete nicht auf Berger, die immer wieder darauf beharrte, sich die E- Mails ansehen zu wollen. Obwohl die Passwörter direkt vor ihrer Nase lagen, war Lucy nicht bereit, sich mit dem nächsten Thema zu befassen, ehe sie nicht wusste, warum der Name ihrer Tante mit beängstigender Häufigkeit in den bruchstückhaften Versionen der Magisterarbeit auftauchte, deren Verfasser Terri Bridges oder vielleicht auch Oscar Bane war.
»Ich fürchte, du steigerst dich da in etwas Persönliches hinein«, protestierte Berger. »Und das gefällt mir gar nicht. Wir müssen uns die E-Mails anschauen. Aber du liest ja lieber, was über deine Tante geschrieben wurde. Damit will ich natürlich nicht behaupten, dass es nicht wichtig wäre.«
»Du musst darauf vertrauen, dass ich weiß, was ich tue«, entgegnete Lucy, die sich weigerte nachzugeben.
Also blieb der Notizblock mit den Passwörtern liegen, wo er war, und zwar auf dem Schreibtisch neben Lucys Tastatur. »Geduld. Immer eins nach dem anderen«, fügte Lucy hinzu. »Ich schreibe dir ja auch nicht vor, wie du in deinen Fällen ermitteln sollst.«
»Im Moment habe ich aber ganz diesen Eindruck. Ich will einen Blick auf die E-Mails werfen, während du darauf bestehst, weiter diese verdammte Magisterarbeit zu lesen. Du bist mir keine Hilfe.«
»Ich helfe dir doch, und zwar, indem ich mich nicht von dir herumkommandieren und mir vorschreiben lasse, wie ich meine Arbeit zu machen habe. Ich lasse es nicht zu, dass du mir Anweisungen gibst oder Einfluss auf mich nimmst, und damit basta. Ich kenne mich in diesen Dingen aus, während du vieles davon noch nicht verstehst. Du musst genau nachvollziehen können, was wir hier machen - auch warum und wie -, denn wenn es ein wichtiger Fall wird, und das wird es sicher, wirst du ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Und nicht ich werde dem Richter und den Geschworenen erklären müssen, dass ein Teil dieser Ermittlungen mit einem forensischen Computerprogramm durchgeführt wurde. Du wirst mich wahrscheinlich nicht als Gutachterin benennen dürfen, und zwar aus einem ziemlich offensichtlichen Grund.«
»Darüber müssen wir auch noch reden«, entgegnete Berger.
»Persönliche Befangenheit«, erwiderte Lucy.
»Du würdest dich unglaubhaft machen.« Berger nutzte die Gelegenheit, ihre Zweifel
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