Kay Scarpetta 16: Scarpetta
Glasscheiben unzerbrechlich und die Räume einigermaßen vorzeigbar hergerichtet und mit Landschaftsbildern und echten Pflanzen ausgestattet gewesen. Außerdem wurden die Trauernden nie allein gelassen.
Dr. Lester führte sie zu dem Raum, der normalerweise stark verwesten, radioaktiv verseuchten oder mit ansteckenden Krankheiten behafteten Leichen vorbehalten war. Ein leichter Gestank schlug Scarpetta entgegen, als forderte eine ganz besondere Form des Leids sie zum Eintreten auf. Die meisten Ärzte rissen sich nicht darum, in diesem Raum zu arbeiten.
»Gibt es einen Grund, warum Sie die Leiche isoliert haben? «, fragte sie. »Wenn ja, wäre es nett, ihn uns jetzt zu nennen.«
Dr. Lester betätigte einen Lichtschalter. Neonröhren sprangen flackernd an und beleuchteten einen Autopsietisch aus Edelstahl, einige Instrumentenwagen und einen Rollwagen, auf dem eine mit einem blauen Einweglaken bedeckte Leiche lag. Der große Monitor auf einem Untergestell war in sechs Quadranten aufgeteilt, die abwechselnd verschiedene Perspektiven des Gebäudes und der Zufahrt zeigten.
Scarpetta bat Benton, auf dem Flur zu warten, während sie aus der angrenzenden Garderobe Gesichtsmasken, Überschuhe, Hauben und Kittel holte. Als sie gerade lilafarbene Gummihandschuhe aus einem Karton nahm, erklärte Dr. Lester, sie bewahre die Leiche deshalb hier auf, weil die begehbare Kühlkammer derzeit unbenutzt sei. Scarpetta hörte nur mit halbem Ohr hin. Es war nicht zu entschuldigen, dass sie sich nicht die Mühe gemacht hatte, den Rollwagen die wenigen Meter bis zum Autopsiesaal zu schieben, wo weniger Ansteckungsgefahr bestand und es nicht so schlecht roch.
Das Laken raschelte, als Scarpetta es entfernte, und gab einen bleichen Körper mit vergleichsweise langem Torso, großem Kopf und verkürzten Gliedmaßen frei, wie sie für Achondroplasie typisch sind. Sofort fiel ihr auf, dass sämtliche Körperbehaarung, ja, sogar die Schambehaarung fehlte. Scarpetta tippte auf eine Laserbehandlung, die sicher eine Reihe schmerzhafter Sitzungen nötig gemacht hatte. Das stimmte mit Oscar Banes Aussage über Terris Phobien überein. Sie dachte an die Hautärztin, die er erwähnt hatte.
»Ich nehme an, sie hat bei ihrer Einlieferung schon so ausgesehen«, meinte Scarpetta und hob eines der Beine an, um es besser betrachten zu können. »Sie haben sie nicht rasiert, oder?«
Es war anstrengend, dass sie nichts preisgeben durfte, was sie von Oscar Bane erfahren hatte.
»Selbstverständlich nicht«, entgegnete Dr. Lester. »Welchen Grund hätte ich haben sollen, sie zu rasieren?«
»Hat die Polizei etwas dazu gesagt? Hat man etwas am Tatort gefunden? Hat Oscar Bane oder ein anderer Zeuge von ihrer Haarentfernung gesprochen oder erzählt, sie habe sich einer Behandlung unterzogen?«
»Nur, dass es ihnen aufgefallen ist«, antwortete Dr. Lester. »Also war nicht davon die Rede, wo sie es hat machen lassen? In einer Hautarztpraxis vielleicht?«
»Mike hat da etwas angedeutet. Ich habe mir den Namen notiert. Eine Hautärztin hier in der Stadt. Er meinte, er werde sie anrufen.«
»Wie hat er von dieser Ärztin erfahren?«, fragte Benton. »Durch Rechnungen in ihrer Wohnung. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, hat er jede Menge Rechnungen und Briefe mitgenommen und sie durchgearbeitet. Das Übliche eben. Und das wiederum führt zu der Vermutung, dass ihr Freund pädophil ist. Die meisten Männer, die von ihren Frauen verlangen, sich sämtliche Schamhaare entfernen zu lassen, sind Pädophile, ob nun praktizierende oder nicht.«
»Woher wollen wir wissen, dass die Haarentfernung die Idee ihres Freundes war?«, wandte Benton ein. »Vielleicht hat sie es ja aus eigenem Antrieb getan.«
»Sie sieht dadurch jedenfalls kindlicher aus«, beharrte Dr. Lester.
»Sonst macht sie keinen sehr kindlichen Eindruck«, widersprach Benton. »Eine Entfernung des Schamhaars könnte auch etwas mit Oralverkehr zu tun haben.«
Scarpetta zog einen Scheinwerfer näher an den Rollwagen.
Der Y-Schnitt verlief von den Schlüsselbeinen über das Brustbein bis zum Becken und war mit dickem Zwirn zusammengenäht. Das Muster erinnerte sie stets an einen Baseball. Sie drehte den Kopf hin und her, um sich das Gesicht besser anzusehen, und spürte, wie sich die aufgesägte Schädeldecke unter der Kopfhaut bewegte. Terri Bridges' Gesicht war dunkelrot angelaufen, die Petechien leuchteten, und als Scarpetta die Augenlider anhob, war die
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