Kay Scarpetta 16: Scarpetta
Netzhaut dunkelrot unterblutet.
Sie war nicht schmerzlos oder schnell gestorben.
Wenn man jemanden mit einer Schnur erdrosselt, werden dabei die Arterien und Venen unterbrochen, die mit Sauerstoff angereichertes Blut zum Gehirn bringen und sauerstofffreies Blut abfließen lassen. Als der Täter die Schnur immer fester zugezogen hatte, hatte er die Venen blockiert, die das Blut vom Kopf wegführten, während weiteres Blut nachfloss und keinen Platz mehr fand. Durch den zunehmenden Druck waren Blutgefäße geplatzt, was in Verstopfungen und einer Reihe winziger Blutungen resultierte. Dem Gehirn ging der Sauerstoff aus, bis das Opfer schließlich an zerebraler Hypoxie gestorben war.
Allerdings nicht sofort.
Scarpetta nahm eine Lupe und ein Lineal von einem Wagen und untersuchte die Abschürfungen am Hals der Leiche. Sie waren U-förmig, befanden sich dicht unterhalb des Kiefers und verliefen am Hinterkopf auf beiden Seiten in steilem Winkel aufwärts. Scarpetta bemerkte ein zartes Muster aus linearen Spuren, die einander überlagerten. Der zum Erdrosseln benutzte Gegenstand war offenbar glatt und ohne erkennbare Kanten gewesen. Scarpetta schätzte die Breite auf zwischen einen und anderthalb Zentimeter. Sie hatte so etwas schon öfter gesehen, wenn es sich bei der Waffe um ein Kleidungsstück oder einen anderen elastischen Gegenstand handelte, der beim Zusammenziehen schmaler und beim Lockerlassen wieder breiter wurde. Sie winkte Benton zu sich.
»Das wirkt auf mich eher wie eine Garotte«, stellte sie fest. Sie fuhr die teilweise aufgeschürften waagerechten Spuren am Hals nach, die kurz hinter den Kieferknochen endeten.
»Der Winkel deutet darauf hin, dass der Angreifer hinter ihr und über ihr stand und keinen beweglichen Knoten oder irgendeine Art von Knebel benutzt hat, um die Mordwaffe fester zusammenzuziehen«, meinte sie. »Er hat einfach die Enden festgehalten und mit Wucht zurück und nach oben gezerrt, und zwar mehrere Male. So wie man mit einem Auto hin und her fährt, wenn es im Schnee stecken geblieben ist. Auf diese Weise bleibt es in seinen eigenen Spuren, trifft sie aber nicht absolut genau, so dass man oft nicht sagen kann, wie häufig die Prozedur wiederholt wurde. Schau dir die stark leuchtenden Petechien und Einblutungen an. Auch das weist auf eine Garotte hin.«
Benton spähte durch die Lupe, betastete die Spuren am Hals mit behandschuhten Händen und bewegte den Kopf hin und her, um ihn sich besser ansehen zu können. Scarpetta spürte seine Nähe, als sie gemeinsam die Leiche betrachteten, und wurde von widersprüchlichen Gerüchen und Gefühlen abgelenkt. Die kühle, unangenehm stickige Luft bildete einen starken Kontrast zu Bentons Wärme. Während sie ihm erklärte, warum Terri Bridges mehrfach mit einer Garotte erwürgt worden war, nahm sie seine Lebendigkeit überdeutlich wahr.
»Nach den Spuren zu urteilen, die ich hier sehe, mindestens dreimal«, fügte sie hinzu.
Dr. Lester stand mit verschränkten Armen auf der anderen Seite des Rollwagens. Beklommenheit ließ sich auf ihrem Gesicht erkennen.
»Wie lange war sie vor jeder Wiederholung bewusstlos?«, fragte Benton.
»Könnten nur zehn Sekunden gewesen sein«, erwiderte Scarpetta. »Der Tod wäre nach wenigen Minuten eingetreten, sofern die Würgefessel nicht wieder gelockert wurde, und genau das ist meiner Ansicht nach passiert. Der Täter hat sie wieder zur Besinnung kommen lassen, sie dann erneut gewürgt, bis sie bewusstlos war, und diese Prozedur so lange wiederholt, bis sie starb. Oder bis es ihm zu langweilig wurde.«
»Oder bis ihn jemand gestört hat«, schlug Benton vor. »Mag sein. Jedenfalls sind diese Wiederholungen die Erklärung für den starken Blutstau in ihrem Gesicht und die im Überfluss vorhandenen stecknadelkopfgroßen Blutungen.« »Sadismus«, stellte er fest.
»Oder ein Sado-Maso-Spiel, das aus dem Ruder gelaufen ist.« Dr. Lester machte einen Schritt vorwärts.
»Haben Sie ihren Hals auf Faserspuren untersucht?«, erkundigte sich Scarpetta. »Gibt es Hinweise darauf, mit was für einer Mordwaffe wir es zu tun haben?«
»Ich habe Fasern in ihrem Haar und an anderen Körperpartien sichergestellt und sie zur Untersuchung ins Labor geschickt. Keine Fasern in den Abschürfungen am Hals.«
»Ich an Ihrer Stelle würde die Sache möglichst beschleunigen«, sagte Scarpetta. »Das hier war kein Sado-Maso-Spiel. Die rötlichen, trockenen, tiefen Striemen an ihren
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