Kay Scarpetta 16: Scarpetta
eine Obdachlose, als sie sich mit ihrem Gepäck abmühte. Der Koffer fiel alle paar Meter um, und wenn sie sich bückte, um ihn wieder aufzurichten, rutschten ihr die Taschen von den Schultern. Durchgefroren und gereizt setzte sie ihren Weg zum neuen Bellevue, Ecke First Avenue und East Twenty-seventh Street, fort, einem allgemeinen Krankenhaus mit einem verglasten Atrium als Eingangshalle, einem Garten, einer in Fachkreisen angesehenen Unfallstation, einer Intensivstation und einer forensischen Psychiatrie für männliche Patienten, denen Verbrechen von Schwarzfahren bis hin zum Mord an John Lennon zur Last gelegt wurden.
Das Telefon auf Bentons Schreibtisch läutete nur wenige Minuten nachdem die Verbindung zu Scarpetta abgebrochen war. Deshalb war er sicher, dass sie wieder am Apparat sein würde.
»Was ist passiert?«, fragte er.
»Das wollte ich eigentlich von dir wissen«, entgegnete Jaime Berger.
»Tut mir leid, ich hatte eigentlich mit Kay gerechnet. Sie hat nämlich irgendein Problem ... «
»Das kannst du laut sagen. Schön, dass du es bereits bei unserem Gespräch von vorhin erwähnt hast. Lass mich nachrechnen, das war vor etwa sechs oder sieben Stunden. Warum hast du es mir nicht erzählt?«
Offenbar hatte Berger Gotham Gotcha gelesen. »Das ist ziemlich kompliziert«, erwiderte Benton.
»Das ist es sicher. Wir müssen uns mit einer ganzen Reihe von Schwierigkeiten herumschlagen. In zwei Minuten bin ich im Krankenhaus. Wir treffen uns in der Cafeteria.«
Pete Marinos Einzimmerwohnung in einem Haus ohne Aufzug in Hadern lag ganz in der Nähe von Manna's Soul Food, so dass er täglich Grillhähnchen und Spare-Ribs lebte und atmete. Eine himmelschreiende Ungerechtigkeit für einen Mann, der auf Essen und Trinken weitgehend verzichten musste und deshalb eine unersättliche Gier auf verbotene Lebensmittel verspürte.
Sein provisorisches Esszimmer bestand aus einem Fernsehtischchen und einem Holzstuhl und hatte Blick auf den steten Verkehrsstrom auf der Fifth Avenue. Marino legte Putenbrust auf eine Scheibe Weizen-Vollkornbrot, klappte das Ganze zusammen und tunkte es in einen Klecks Senf auf einem Pappteller. Die Flasche alkoholfreies Bier war nach zwei Schlucken schon zu einem Drittel leer. Seit seiner Flucht aus Charleston hatte Marino fünfundzwanzig Kilo und einen Teil seiner Persönlichkeit verloren. Die Kartons mit den Rockerklamotten, einschließlich der beeindruckenden Sammlung Lederkleidung von Harley-Davidson, waren in einen Gebrauchtwarenladen in der Hundred-sixteenth Street gewandert, wo er dafür drei Anzüge, einen Blazer, zwei Paar Schnürschuhe und einige Hemden und Krawatten erhalten hatte - alles Imitate aus China.
Er hatte auch den Ohrring mit dem Diamanten abgelegt.
An seinem rechten Ohrläppchen war nun ein schief sitzendes Loch zu sehen, das ihm wie ein Symbol seines gescheiterten und verpfuschten Lebens erschien. Außerdem hatte er aufgehört, sich den Schädel glatt wie eine Bowlingkugel zu rasieren. Nun hatte er einen grauen Haarkranz, der seinen großen Kopf umgab wie ein schlechtpolierter, nur von den Ohren gehaltener silberner Heiligenschein. Er hatte geschworen, die Finger von Frauen zu lassen, bis er sich wieder in der Lage dazu fühlte. Da er für sein Motorrad und seinen Pick-up ohnehin keinen Parkplatz finden konnte, hatte er sie ebenfalls verkauft. Naney, seine Psychologin in der Therapieklinik, hatte ihm geholfen zu verstehen, wie wichtig Selbstbeherrschung im alltäglichen Umgang mit anderen Menschen war, ganz gleich, was mit ihnen nicht stimmte und welche Strafe sie auch verdient haben mochten.
In ihrer bildhaften Art hatte sie ihm erklärt, Alkohol sei das brennende Streichholz, das die Flammen seiner Wut erst richtig entfachte. Dann hatte sie hinzugefügt, das Trinken sei eine verhängnisvolle Krankheit, die er von seinem Vater einem Arbeiter ohne nennenswerte Schulbildung und zudem kein sehr fürsorglicher Mensch - geerbt habe, der sich am Zahltag stets betrunken hatte und dann gewalttätig geworden war. Kurz gesagt, war Marinos Krankheit genetisch bedingt. Marino war zu dem Schluss gekommen, dass es die Trunksucht schon seit dem Garten Eden gab. Wahrscheinlich war es gar kein Apfel, sondern eine Flasche Bourbon gewesen, die die Schlange Eva gegeben hatte. Die hatte sie mit Adam geteilt und anschließend Sex mit ihm gehabt, worauf die beiden, nur mit einem Feigenblatt am Leibe, aus dem Paradies geworfen worden waren.
Nancy hatte Marino
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