Kay Scarpetta 16: Scarpetta
Zwar nicht in New York, aber vergiss nicht, dass Oscar selbständig ist und - ich zitiere - morgens nicht ins Büro muss. Außerdem hat er ein Auto und ist finanziell unabhängig, weil er von seiner Familie jedes Jahr zum Geburtstag einen steuerfreien Scheck bekommt. Im Moment ist die Obergrenze zwölf Riesen. So müssen sie sich wegen ihres durchgeknallten einzigen Sohnes nicht so schuldig fühlen. Er kann das ganze Geld für sich allein ausgeben. Und wir haben keine Ahnung, wo er herumfährt und was er dann so treibt. Allerdings wäre es nett, wenn ich auf diese Weise noch ein paar alte Schätzchen zu den Akten legen könnte.«
Marino öffnete den Kühlschrank, holte eine Flasche alkoholfreies Bier heraus, öffnete sie und warf den Kronkorken in die Spüle, wo er ein Klappern erzeugte wie Schrotkugeln auf einer Zielscheibe aus Metall.
»Welche Morde?«, fragte er.
»Ich bin in unserer Datenbank auf zwei ähnliche Fälle gestoßen. Wie ich schon sagte, nicht in New York, weshalb sie mir nicht gleich eingefallen sind. Beide wurden im Sommer 2003 verübt, und zwar in einem Abstand von zwei Monaten. Ein Vierzehnjähriger auf Oxycodon, das ist ein stark süchtig machendes Aufputschmittel. Wurde nackt aufgefunden, an Händen und Füßen gefesselt und erdrosselt. Die Würgefessel wurde nicht bei der Leiche gefunden. Kam aus einer guten Familie in Greenwich, Connecticut. Die Leiche wurde in der Nähe eines Bugatti-Händlers abgelegt. Ungeklärter Fall, keine Verdächtigen.«
»Und wo war Oscar im Sommer 2003?«, erkundigte sich Marino.
»Dort, wo er jetzt auch ist. Derselbe Job. Dieselbe Wohnung. Dasselbe durchgeknallte Leben. Das heißt, er kann überall gewesen sein.«
»Ich sehe da keine Verbindung. Was hat der Junge gemacht? Kerlen einen geblasen, um Geld für Drogen zu verdienen, und ist dabei an den falschen Freier geraten? So hört es sich wenigstens für mich an. Oder hast du Grund zu der Annahme, dass Oscar Bane auf kleine Jungs steht?«
»Man merkt meistens erst, worauf die Leute so stehen, wenn sie anfangen, zu vergewaltigen und zu morden, und alles ans Licht kommt. Oscar könnte der Täter sein. Wie ich schon sagte, hat er ein Auto. Er kann nach Herzenslust in der Gegend herumkurven und hat jede Menge Freizeit. Außerdem ist er sehr kräftig. Wir sollten ihn nicht gleich ausschließen.«
»Und der andere Fall? Auch ein Jugendlicher?« »Eine Frau.«
»Dann erklär mir mal, warum Oscar die umgebracht haben soll«, meinte Marino.
»Hoppla.« Morales gähnte laut. »Ich sortiere gerade meine Papiere. Alles durcheinander. Jetzt hab ich's. Sie war die Erste, dann kam erst der Junge. Sehr attraktiv, einundzwanzig, gerade aus einer Kleinstadt in North Carolina nach Baltimore gezogen. Ein unwichtiger Job bei einem Radiosender. Wollte eigentlich zum Fernsehen. Stattdessen hat sie sich auf Nebentätigkeiten eingelassen, um Geld für Oxycodon zu verdienen. Also hatte der Täter leichtes Spiel mit ihr. Nackt, Hände gefesselt, erdrosselt, die Würgefessel wurde nicht gefunden. Sie haben die Leiche in einem Müllcontainer am Hafen entdeckt.«
»Gibt es in diesen Fällen DNA-Spuren?«, wollte Marino wissen.
»Nichts Verwertbares und auch weder Hinweise auf einen sexuellen Übergriff noch Sperma.«
»Ich warte immer noch auf den Zusammenhang«, sagte Marino. »Mordfälle, in denen das Opfer für Drogen anschaffen ging und gefesselt und erwürgt irgendwo abgelegt wurde, gibt es wie Sand am Meer.«
»Erinnerst du dich, dass Terri Bridges ein dünnes Goldkettchen am linken Fußgelenk hatte? Niemand weiß, woher es kommt. Seltsam, da sie sonst keinen Schmuck trug. Und als ich Oscar nach dem Kettchen fragte, behauptete er, er habe es noch nie zuvor gesehen.«
»Und?«
»Dasselbe in den beiden anderen Fällen. Kein Schmuck bis auf ein dünnes Goldkettchen am linken Fußgelenk. Das ist die Seite, auf der sich auch das Herz befindet, richtig? Wie eine Fußfessel. Du bist mein Liebessklave. Könnte die Signatur des Täters sein. Die von Oscar. Ich suche die Fallakten zusammen und durchforste weiter die Datenbanken, bis ich auf weitere Informationen stoße. Wir werden die üblichen Verdächtigen informieren - einschließlich deiner alten Truppe.«
»Welche alte Truppe?« Marinos Gedanken verfärbten sich von Düster zu Schwarz.
Die Gewitterwolken in seinem Kopf versperrten ihm die Sicht.
»Benton Wesley. Und diese scharfe junge Ex-FBI-Agentin, die, was man so hört,
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