Kay Scarpetta 16: Scarpetta
Alkoholiker und Drogenabhängigen, seinen quälenden Grübeleien und seinen peinlich offenen Gesprächen mit Nancy abzulenken.
Marino stand auf und nahm den durchweichten Pappteller, die Serviette und die leere Flasche Bier. Bis zur Küche waren es nur sechs Schritte. Das kleine Fenster über der Spüle hatte Blick auf ein Stück mit einem Rasenteppich belegten Beton und Tische und Stühle aus Aluminium. Das Ganze war von einem Maschendrahtzaun umgeben und sollte offenbar den in der Anzeige erwähnten Garten des Mietshauses darstellen.
Auf der Anrichte stand sein Computer. Marino las die Klatschspalte von diesem Morgen, die er auf dem Desktop gespeichert hatte. Er war fest entschlossen, herauszufinden, wer dahinter steckte, den Dreckskerl dingfest zu machen und dann etwas zu unternehmen, um die Körperteile des Betreffenden dauerhaft umzugruppieren.
Allerdings wusste er nicht, welche Ermittlungsmethode in diesem Fall greifen würde. Er konnte Gotham Gotcha googeln, bis er alt und grau war, ohne etwas Neues zu erfahren. Ebenso aussichtslos war es, den Verfasser mit Hilfe der Firmen zu enttarnen, die dafür bezahlten, auf der Website Reklame für Lebensmittel, Alkohol, Bücher, Unterhaltungselektronik, Filme oder Fernsehshows machen zu können. Der Kerl folgte keinem Muster, und nur eines stand fest: Millionen von Menschen waren süchtig nach diesen gottverdammten Klatschgeschichten - und die von heute Morgen befasste sich fast ausschließlich mit dem schlimmsten Ereignis in Marinos ganzem Leben.
Das Telefon läutete. Es war Detective Mike Morales. »Was gibt's?«, fragte Marino.
»Bin auf Datensuche, Bro«, erwiderte Morales, langsam und träge wie immer.
»Ich bin nicht dein Bro. Verschon mich mit deinem Rapper-Slang.«
Morales' Trick war es, stets benebelt und gelangweilt zu wirken, als stünde er unter Tranquilizern oder Schmerzmitteln. Hinter dieser schläfrigen Fassade verbarg sich jedoch ein arroganter Mistkerl, der erst in Dartmouth und dann an der Johns Hopkins University studiert und seinen Abschluss in Medizin gemacht hatte. Dann jedoch hatte er beschlossen, bei den Kämpfern für Recht und Ordnung anzuheuern, dem New York Police Department, was Marino ein wenig seltsam vorkam. Ein Mensch, der Arzt war, ging doch nicht freiwillig zur Polizei.
Außerdem liebte es Morales, die abenteuerlichsten Geschichten über sich in Umlauf zu bringen. Wenn die Kollegen ihm dann glaubten, lachte er sich halbtot. Angeblich war sein Cousin der Präsident von Bolivien. Sein Vater sei mit der Familie nach Amerika gezogen, weil er den Kapitalismus befürwortete und es satt hatte, Lamas zu hüten. Morales behauptete, er sei in einer Sozialbausiedlung in Chicago aufgewachsen und ein Kumpel von Barack Obama gewesen, bis die Politik sie entzweit hätte, eine Story, die für die, die es nicht besser wussten, plausibel klang. Kein Präsidentschaftskandidat konnte jedoch einen Freund gebrauchen, der seine Mitmenschen mit »Bro« ansprach, aussah wie ein Mitglied einer Gang, Baggy-Pants auf halbmast trug, sich mit dicken Goldketten und Ringen schmückte und sein Haar zu kleinen Zöpfchen flocht.
»Hab den ganzen Tag lang Anfragen gestartet, Bro«, sagte Morales.
»Keine Ahnung, wovon du redest.«
»Ich habe nach dem Üblichen gesucht: Verhaltensmuster, besondere Merkmale, Vorgehensweise, von hier bis Dollywood. Und ich glaube, ich bin da auf etwas gestoßen.« »Auf was außer Berger?«, meinte Marino.
»Was haben Frauen wie sie und Kay Scarpetta nur an sich?
Ich könnte dafür sterben, mich von ihr begrapschen zu lassen. Verdammt. Kannst du dir vorstellen, es mit ihr und Berger gleichzeitig zu treiben? Nun, wen frage ich da? Natürlich kannst du das.«
Marinos Abneigung gegen Morales verwandelte sich schlagartig in Hass. Ständig machte er sich über Marino lustig und hackte auf ihm herum. Der einzige Grund, warum Marino es ihm nicht mit gleicher Münze - oder in noch härterer Währung - heimzahlte, war sein Schwur, sich in Zukunft zu mäßigen. Benton hatte Berger um einen Gefallen gebeten. Wenn sie abgelehnt hätte, wusste nur der liebe Gott, was dann aus Marino geworden wäre. Vermutlich wäre er als Telefonist im Polizeirevier irgendeines Drecksnests geendet. Oder als Trinker in einem Obdachlosenasyl. Oder als Leiche.
»Aller Wahrscheinlichkeit nach hat unser Mörder schon einmal zugeschlagen«, sagte Morales. »Ich habe da zwei weitere Morde gefunden, die Gemeinsamkeiten aufweisen.
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