Kay Scarpetta 16: Scarpetta
warmes Licht, während sie über ihren Kopf und ihren restlichen Körper glitten, als wollte er sie ebenfalls untersuchen. Als sie fertig war und den Kopf hob, starrte er erneut an die Wand. Er bat sie, nicht hinzuschauen, als er sich selbst Kopfhaare ausriss, die sie in einem Beutel verstaute. Die Schamhaare wanderten in einen anderen Beutel. Für einen derart schmerzempfindlichen Menschen verzog er kaum eine Miene. Allerdings war sein Gesicht angespannt, und der Schweiß stand ihm auf der Stirn.
Scarpetta packte einen Zungenreiniger aus. Mit zitternden Händen strich er sich damit durch die Mundhöhle.
»Bitte schicken Sie ihn jetzt raus.« Damit meinte er den Wachmann. »Sie brauchen ihn nicht. Ich sage kein Wort, solange er hier ist.«
»Das kommt nicht in Frage«, erwiderte der Beamte. »Sie haben hier keine Forderungen zu stellen.«
Oscar starrte schweigend an die Wand. Der Justizbeamte sah Scarpetta abwartend an.
»Wissen Sie, was?«, antwortete sie schließlich. »Ich denke, das geht schon.«
»Ich würde Ihnen davon abraten, Doc. Er ist ziemlich aufgebracht.«
Auf Scarpetta wirkte er zwar ganz und gar nicht so, aber sie verkniff sich die Bemerkung. Sie hatte eher den Eindruck, dass er benommen und verstört war und kurz vor einem hysterischen Ausbruch stand.
»Immerhin bin ich angekettet wie Houdini«, wandte Oscar ein. »Im Gefängnis zu sitzen ist eine Sache. Aber Sie brauchen mich doch nicht zu fesseln wie einen Serienmörder. Es wundert mich, dass sie mich nicht in einem Käfig hereingerollt haben wie Hannibal Lecter in Das Schweigen der Lämmer. Offenbar haben die Mitarbeiter hier noch nicht mitbekommen, dass mechanische Fixierungen in psychiatrischen Kliniken schon Mitte des neunzehnten Jahrhunderts abgeschafft wurden. Was habe ich angestellt, dass man mich so behandelt?«
Er hob die gefesselten Hände und war so wütend, dass Speichel aus seinem Mund sprühte.
»Der Grund ist, dass unwissende Menschen wie Sie mich für ein Ungeheuer halten.«
»Übrigens, Oscar«, entgegnete der Wachmann. »Ich habe Neuigkeiten für Sie. Sie befinden sich nicht in einer gewöhnlichen psychiatrischen Klinik. Das hier ist die Gefängnisabteilung, und Sie wollten selbst hier eingeliefert werden.« Er wandte sich an Scarpetta. »Ich würde lieber bleiben, Doc.«
»Ein Ungeheuer. Das bin ich doch für dumme Leute wie Sie.«
»Wir kommen schon allein zurecht«, meinte Scarpetta zu dem Wachmann. Allerdings verstand sie, warum Berger so viel Vorsicht walten ließ.
Oscar war sehr mitteilungsfreudig, sobald es darum ging, dass er sich ungerecht behandelt fühlte, und wies jeden sofort darauf hin, dass er kleinwüchsig war. Dabei wäre dies den meisten im ersten Moment gar nicht aufgefallen, solange er saß. Auch Scarpetta hatte es beim Betreten des Raums nicht auf Anhieb bemerkt. Seine verschiedenfarbigen Augen hatten sie angestarrt und schienen, verstärkt durch die blendend weißen Zähne und das hellblonde Haar, noch mehr zu strahlen. Obwohl seine Gesichtszüge nicht makellos waren, wiesen sie eine Harmonie auf, die einen dazu brachte, genauer hinzusehen. Scarpetta fragte sich immer noch, woran Oscar Bane sie erinnerte. Vielleicht an eine Büste auf einer alten Goldmünze.
»Ich bleibe draußen vor der Tür«, sagte der Wachmann. Er ging hinaus und schloss die Tür, die wie alle Türen in dieser Abteilung keine Klinke hatte. Nur die Wachleute besaßen Schlüssel, weshalb es wichtig war, die doppelzylindrigen Schlösser stets in der verschlossenen Position zu halten. Andernfalls rasteten die Schlösser nämlich ein, so dass ein Mitarbeiter oder ein Facharzt wie sie selbst in einem kleinen Raum mit einem hundert Kilo schweren Hünen gefangen war, der vielleicht gerade eine Kneipenbekanntschaft zerstückelt hatte.
Scarpetta griff zum Maßband. »Ich würde gern Ihre Arme und Beine vermessen und feststellen, wie groß Sie genau sind und wie viel Sie wiegen.«
»Ich bin eins achtundzwanzig groß«, antwortete er. »Ich wiege fünfzig Kilo. Meine Schuhgröße ist sechsunddreißig, so dass ich häufig Damenschuhe kaufen muss. Manchmal brauche ich auch Größe siebenunddreißig. Hängt vom Schuh ab. Ich habe breite Füße.«
»Ich möchte gern Ihren linken Arm vom Schultergelenk bis zur Spitze des dritten Fingers vermessen. Wären Sie so gut, den Arm so gerade wie möglich auszustrecken? Ausgezeichnet. Vierzig Komma sechs Zentimeter der linke und vierzig Komma
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