Kay Scarpetta 16: Scarpetta
die obere Etage gezogen, ohne ihr Zeit zu geben, die Jacke abzulegen. Allerdings wusste Berger nicht, was sie jetzt davon halten würde, solange das abscheuliche Standbild auf dem Flachbildschirm zu sehen war. Vielleicht jedoch dachte sie genau dasselbe. Jedenfalls wollte Berger nicht allein sein.
»Diese Erklärung erscheint mir am plausibelsten«, ergriff Lucy endlich das Wort. »Morales hat Oscar in der Hautarztpraxis den Chip implantiert. Vermutlich glaubte Oscar, er bekäme eine Demerolspritze in den Hintern. Sicher hatte Terri mit Morales über Oscar gesprochen und ihm erzählt, sie wisse nicht, ob sie ihm vertrauen könne. Wahrscheinlich war das ganz am Anfang der Beziehung. Daraufhin hat Morales Oscar den Chip verpasst und weiter so getan, als wäre er Terris bester Freund und Vertrauter.«
»Und jetzt zu der Frage: Kannte Terri ihn als Juan Amate oder als Mike Morales? «
»Juan Amate, würde ich sagen. Es wäre viel zu riskant für ihn gewesen, zuzugeben, dass er bei der New Yorker Polizei arbeitet. Ich denke, sie hat ihn Juan genannt. So hat es für mich wenigstens angehört.«
»Wahrscheinlich hast du recht.«
»Wie passt es zusammen, dass sie mit ihm geschlafen hat?«, erkundigte sich Lucy. »Morales hat es doch sicher gestört, dass sie sich mit einem anderen Mann traf.«
»Nein, denn wie ich bereits erklärt habe, tut er, als wäre er dein bester Freund. Frauen vertrauen sich ihm an. Auch ich bin anfangs auf ihn hereingefallen.«
»Wie weit bist du gegangen?«
Die Sache mit den Whiskyflaschen in der Hausbar war noch nicht ausdiskutiert.
»Eigentlich sollte ich nicht darauf antworten müssen«, entgegnete Berger. »Aber dazu ist es zwischen Morales und mir nicht gekommen. Außerdem denke ich, dass du das auch nicht geglaubt hast. Sonst säßen wir nämlich nicht hier. Du hättest dich nicht mehr hier blicken lassen. Die Gerüchte um die Tavern on the Green sind nichts weiter als leeres Geschwätz. Ich bin sicher, dass er sie in die Welt gesetzt hat. Er und Greg mochten einander.«
»Das gibt es doch nicht!«
»Nein, nein, nicht, wie du meinst«, protestierte Berger. »Die einzige Sache, in der Greg nicht zwiegespalten ist, sind seine sexuellen Vorlieben. Er würde niemals mit einem Mann ins Bett gehen.«
32
Scarpetta schenkte Kaffee nach und arrangierte etwas Essbares auf einem Tablett. Ihrer Ansicht nach war gutes Essen das beste Mittel gegen Schlafentzug.
Sie stellte den Teller mit frischem Büffelmozzarella, geschnittenen Eiertornaten, Basilikum und kalt gepresstem, unfiltriertem Olivenöl auf den Tisch. In einem mit einer Leinenserviette ausgelegten Flechtkorb befand sich selbstgebackenes, knuspriges italienisches Brot. Sie forderte die anderen auf, es herumzureichen und sich ein Stück abzubrechen. Marino war als Erster an der Reihe, während sie vor ihn und vor Bacardi kleine Teller und blaukarierte Servietten hinlegte.
Für sich selbst deckte sie neben Benton und gesellte sich zu ihm aufs Sofa.
»Vergiss nur eines nicht«, meinte Benton. »Wenn sie es erfahrt, und das wird sie sicher, verrätst du ihr nicht, was ich vorhabe. Weder vor- noch hinterher.«
»Ganz richtig«, bekräftigte Marino. »Ihr dämliches Telefon wird klingeln, bis es explodiert. Ich muss zugeben, dass mir nicht ganz wohl dabei ist. Es wäre schön, mehr Zeit zum Nachdenken zu haben.«
»Die haben wir aber nicht«, entgegnete Benton. »Zeit ist ein Luxus, auf den wir momentan verzichten müssen. Oscar läuft irgendwo da draußen herum, und wenn Morales ihn nicht schon erwischt hat, wird er ihn früher oder später kriegen. Er wird ihn jagen wie ein Tier.«
»Das tut er doch bereits die ganze Zeit«, wandte Bacardi ein. »Bei einem Typen wie ihm wird man wieder zur Befürworterin der Todesstrafe.«
»Für uns ist es hilfreicher, Leute wie ihn zu untersuchen«, erwiderte Benton sachlich. »Sie umzubringen erfüllt keinen praktischen Zweck.«
Er war mit einem eleganten Maßanzug bekleidet, den er nie im Krankenhaus getragen hätte, dunkelblau mit einem hellblauen Nadelstreifenmuster, und dazu ein hellblaues Hemd und eine silbrig blau changierende Krawatte. Die Maskenbildnerin bei CNN würde sich keine fünfzehn Minuten mit ihm beschäftigen müssen. Benton konnte nicht mehr viel tun, um sein Äußeres aufzuwerten, vielleicht ein bisschen Puder und ein Hauch von Spray auf sein weißes Haar. Übrigens war ein Friseurbesuch überfällig. Für Scarpetta sah er aus
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