Kay Scarpetta 16: Scarpetta
gekommen und hatte den Zusammenhang - zumindest bewusst - erst jetzt erkannt. Wie konnte das möglich sein? P. R. Marino? Also Pete Marino, der Mann aus der Kolumne, die sie selbst Korrektur gelesen und ins Netz gestellt hatte. Die beiden konnten unmöglich ein und dieselbe Person sein! Der andere Marino lebte doch in South Carolina, oder? Er arbeitete ganz bestimmt nicht für Jaime Berger. Eine Frau wie Ms. Berger würde doch niemals einen solchen Mann beschäftigen. Shrew stand kurz vor einer Panikattacke; ihr Herz klopfte so heftig, dass ihr die Brust weh tat. Wenn dieser Marino der Mann war, über den der Chef gerade eine Kolumne geschrieben hatte, hatte er nichts in Shrews Wohnzimmer und im Lehnsessel ihres Mannes verloren. Vielleicht war er sogar der Wahnsinnige, der die wehrlose kleine Frau von gegenüber ermordet hatte.
Genau so hatte der Würger von Boston sich an seine Opfer herangemacht. Er hatte sich als freundliche Vertrauensperson ausgegeben und im Wohnzimmer bei einer Tasse Tee Konversation betrieben, bevor er ...
»Was ist mit Dr. Scarpetta?« Detective Marino bedachte Shrew mit einem Blick, als hätte sie ihm eine durch nichts zu entschuldigende Kränkung zugefügt.
»Ich mache mir Sorgen um sie«, erwiderte Shrew möglichst ruhig. Dabei zitterten ihre Hände so sehr, dass sie sie auf den Schoß legen musste. »Sie ist eine Person des öffentlichen Lebens, und der Beruf, den sie ... ihr Tätigkeitsbereich an sich. Der lockt doch die Leute regelrecht an, denen sie ihre Klientel verdankt.«
Sie holte tief Luft. Offenbar war das die richtige Antwort gewesen. Sie durfte auf keinen Fall andeuten, sie habe etwas über Dr. Scarpetta im Internet gelesen - insbesondere nicht die Kolumnen, die sie heute ins Netz gestellt hatte.
»Ich habe den Eindruck, Sie denken da an etwas Bestimmtes«, sagte er. »Also raus mit der Sprache.«
»Ich befürchte, sie könnte in Gefahr schweben«, erwiderte
Shrew. »Es ist nur so ein Gefühl.«
»Und woher kommt das?« Sein Blick war stahlhart. »Terroristen«, entgegnete sie.
»Terroristen?« Seine Miene wurde versöhnlicher. »Was für Terroristen?« Er sah auch nicht mehr so beleidigt aus. »Haben wir heutzutage nicht alle Angst vor Terroristen?«, versuchte Shrew es mit einer neuen Taktik.
»Ich sage Ihnen was.« Als Pete Marino sich erhob, war es, als ragte ein Riese über ihr auf. »Ich hinterlasse Ihnen meine Karte und möchte, dass Sie noch einmal gründlich nachdenken. Wenn Ihnen etwas einfällt, und mag es Ihnen auch noch so unwichtig erscheinen, rufen Sie mich sofort an. Ich bin rund um die Uhr erreichbar.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, wer so etwas getan haben mag.« Sie stand auf, um ihn zur Tür zu begleiten.
»Der Täter ist immer der, dem man es am wenigsten zugetraut hätte«, erwiderte er.
8
Das Internet eignete sich ausgezeichnet dazu, sich vor Spott zu schützen.
Gotham war ein Internet-College, dessen Studenten nur Dr. Oscar Banes Fähigkeiten und seine Intelligenz kannten, nicht den zwergenhaften Körper, in dem sie gefangen waren.
»Es kann kein einzelner Student oder eine Studentengruppe sein«, meinte er zu Scarpetta. »Niemand kennt mich. Meine Adresse und Telefonnummer sind nirgendwo vermerkt. Es gibt kein College-Gebäude, wo Menschen in Hörsälen sitzen. Die Dozenten treffen sich einige Male im Jahr in Arizona. Mehr Kontakt findet nicht statt.«
»Was ist mit Ihrer E-Mail-Adresse?«
»Die steht auf der Website des College. Das ist Vorschrift.
Vermutlich hat es damit angefangen. Im Internet. Die einfachste Methode, einem Menschen die Identität zu stehlen. Das habe ich auch der Staatsanwaltschaft gesagt. Ich habe erklärt, dass man sich wahrscheinlich auf diese Weise Zugriff verschafft hat. Doch meine Theorien sind auf taube Ohren gestoßen. Kein Mensch hat mir geglaubt, und da wurde mir klar, dass sie vielleicht an dem Gedankendiebstahl beteiligt sind. Sie versuchen, meine Gedanken zu stehlen.«
Scarpetta stand auf und verstaute Notizblock und Stift in der Tasche ihres Laborkittels.
»Ich gehe jetzt um den Tisch herum, um mir Ihren Rücken anzusehen«, sagte sie. »Aber Sie müssen doch manchmal das Haus verlassen.«
»Ich gehe einkaufen, zum Geldautomaten, zum Tanken, zum Arzt, zum Zahnarzt, ins Theater, in Restaurants. Als es begann, habe ich meine Lebensgewohnheiten geändert. Verschiedene Orte, verschiedene Uhrzeiten, verschiedene Tage.«
»Was ist mit dem Fitness-Studio?«
Weitere Kostenlose Bücher