Kay Susan
Eilig stand sie auf, als ich das Zimmer betrat, und drückte die Näharbeit an ihre welke Brust, als sei sie eine Art Schutzschild gegen meine Anwesenheit. Ich konnte die Anstrengung nur bewundern, die sie machte, um ihr altes, instinktives Entsetzen vor mir zu überspielen.
»Haben Sie noch immer Angst vor Spinnen, Mademoiselle?« fragte ich plötzlich.
»Oh . . . ja!« Mit einem kleinen, nervösen Lachen entfernte sie sich von mir und trat näher an den Kamin. »So eine alberne, kindische Angewohnheit. Ihre Mutter konnte mir das nie nachsehen. Oh, Gott . . . , ich hätte darauf vorbereitet sein sollen. Schließlich habe ich in der Presse eine Annonce aufgegeben, sobald ich erkannte, daß sie nicht mehr lange zu leben hatte. Wider alles Erwarten hoffte ich, Sie würden sie lesen, aber das war so unwahrscheinlich nach all diesen Jahren, selbst wenn man die weite Verbreitung der Presse bedenkt. Wir wußten ja nicht einmal, ob Sie noch in Frankreich waren, von Paris ganz zu schweigen. Sie sprach oft von Ihnen, Erik . . . «
Abrupt wandte ich mich ab. Hielt sie mich für ein Kind, das man noch mit hübschen Lügen trösten muß? Meine Mutter hatte mich gehaßt und gefürchtet. Warum also jetzt so tun, als sei es anders gewesen?
»Wann ist die Beerdigung?« fragte ich grob.
»Morgen«, erwiderte Marie. »Es werden nicht viele Trauergäste kommen, nur ein paar Bekannte, die sie kennengelernt hatte, nachdem . . . nun ja . . . hinterher . . . « Sie breitete hilflos die Hände aus, und ich nickte kurz, um anzudeuten, daß ich verstanden hatte. »Ich denke, es wäre vielleicht nicht klug . . . «
»Ich habe nicht die Absicht hinzugehen«, beruhigte ich sie, und trotz meiner Abhärtung schmerzte mich ihre geradezu greifbare Erleichterung. Man braucht mir nicht zu sagen, welchen Skandal meine Anwesenheit auf dem Friedhof auslösen würde. Der letzte Dienst, den ich meiner Mutter erweisen konnte, bestand darin, sie mit der Würde zu Grabe tragen zu lassen, die ihr so teuer gewesen war.
Aber wenigstens konnte ich mein Requiem für sie spielen.
Ich setzte mich an das alte Klavier, und bald verlor ich mich in der Musik. Musik war das geheime Heiligtum meiner Seele; Musik war mein Gott, der einzige Herr, dem ich je wieder dienen würde. Ich wünschte mir, ich könnte ihrer Herrlichkeit ein Denkmal setzen, einen Schrein, wo ich sie anbeten und verehren könnte. Es wäre eine passende Reverenz, den Wundern von Harmonie und Musik ein Mausoleum zu errichten, eine wundervolle Verschmelzung meiner tiefsten kreativen Antriebe. Etwas Riesiges und Prachtvolles, etwas in noch nie dagewesenem Maßstab – ein unvergleichliches Opernhaus vielleicht.
Meine Mutter hatte oft davon gesprochen, daß Paris ein angemessenes Opernhaus brauche. Wie die meisten Menschen, denen es nicht gelungen ist, einen Kindheitsehrgeiz zu verwirklichen, hatte sie sich als eine Art Autorität auf dem Gebiet betrachtet; gewiß war das öffentliche Interesse an einem ständigen Opernhaus für die Hauptstadt schon mehr als hundert Jahre alt. Nicht nur meine Mutter hatte sich dafür erwärmt; Professor Guizots ausgeprägte Ansichten über den besten Standort und die optimale Form des Zuschauerraumes hatten viele meiner unter seiner Anleitung durchgeführten Studien beeinflußt. In den letzten Monaten, ehe ich fortlief, hatte er mich so mit widersprüchlichem Material überschüttet, daß sogar ich gewiß einen einigermaßen ausdrucksvollen Plan zustande gebracht hätte. Ich war nie in Paris gewesen, aber der Professor hatte mir detaillierte Stadtpläne gezeigt, und wir hatten wütende Diskussionen über die relativen Vorzüge des Standorts Place de la Concorde gegenüber der Butte des Moulins geführt.
Ich hätte die Oper mitten im Zentrum von Paris errichtet. Der Boulevard des Capucines schien sich dafür anzubieten. Doch zweifellos würden die Diskussionen noch weitere fünfzig Jahre andauern, ehe endlich eine Entscheidung fiel.
Ich bemerkte, daß Marie unbehaglich hin und her rutschte, und hörte abrupt zu spielen auf.
»Nicht aufhören«, sagte sie ruhig. »Dieses Requiem haben Sie selbst komponiert, nicht wahr? Ihre Mutter . . . «
»Hätte sich so gefreut, es zu hören?« schnaubte ich. »Mademoiselle, ich habe schon seit vielen Jahren kein Bedürfnis mehr nach Märchen.«
Plötzlich eilte Marie zu dem Wandschrank in der Ecke des Zimmers und begann, die Blätter mit meinen alten, kindlichen Zeichnungen hervorzuholen.
»Es gab keinen Tag, an dem sie nicht an Sie
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