Kay Susan
diesem Haus, und sie war tot.
Alles, woran ich denken konnte, war die Tatsache, daß ich nun endlich ihre kalte Wange würde küssen können, daß sie nie wieder vor meiner Berührung zurückschrecken würde.
»Vielleicht möchten Sie sie sehen«, meinte Marie nervös.
Ich ignorierte den Vorschlag und starrte weiter ins Feuer.
»Warum ist sie zurückgekommen?« fragte ich. »Sie haßte dieses Haus genausosehr wie ich. Warum ist sie ausgerechnet hierher zurückgekommen? Ist er gestorben? War es das . . . ist er gestorben?«
Marie sah mich verwirrt an.
»Erik . . . Ihre Mutter hat dieses Haus nie verlassen.«
Ich umklammerte die Armlehnen des Sessels.
»Wollen Sie damit sagen, daß sie hier ganz offen zusammengelebt haben, daß sie es gewagt haben, unter diesem gottverlassenen Dach noch mehr Kinder zu zeugen? Sie wollten fortgehen, ich hörte, wie er das sagte! Nach der Heirat wollten sie irgendwohin gehen, wo niemand sie kannte . . . «
Ich schrie jetzt, und Maries Gesicht verzog sich in namenlosem Schmerz. Der Gedanke, daß ich vielleicht Halbbrüder oder -schwestern in diesem Dorf hatte, das mich vor so vielen Jahren vertrieb, tat mehr weh, als ich je für möglich gehalten hatte. Ich konnte es nicht ertragen, daran zu denken, was grausame Kinder ihnen von ihrem monströsen Bruder erzählt haben mochten; ich konnte es nicht ertragen, mir ihre Scham und Wut vorzustellen – Brüder und Schwestern, die mich nie gesehen hatten und doch an jedem Tag ihres Lebens gewünscht haben mußten, ich sei nie geboren worden.
Wie konnten sie es wagen hierzubleiben!
»Wie konnten Sie es wagen!« Das Brüllen meiner Stimme schien die alten Eichenbalken der Decke erzittern zu lassen, und Marie fuhr entsetzt zurück.
»Es gab keine Heirat, Erik«, stammelte sie. »Dr. Baryé ging einige Wochen nach Ihrem Verschwinden nach Paris zurück, und Ihre Mutter hat ihn nie wiedergesehen. Sie hat nie geheiratet. Sie lebte allein in diesem Haus, bis auf die letzten paar Monate, als ich kam, um sie zu pflegen.«
Diese Enthüllung brachte mich zum Schweigen. Ich fühlte mich wie betäubt und völlig hoffnungslos.
Plötzlich sah ich, daß alles umsonst gewesen war, meine Flucht aus diesem Haus und all die Schrecken, die darauf folgten, als ich tiefer und tiefer in einen Morast endloser, sich selbst fortzeugender Verderbtheit geriet. Gott wollte nichts von dem Scheusal, das er in einem achtlosen Moment der Verirrung geschaffen hatte. Selbst diese kindliche Opfergabe war jetzt nichts weiter als bittere Ironie. Es gab nichts mehr, was meine Seele von denen der in Ewigkeit Verdammten trennte.
Still stand ich auf und ging nach oben in das Zimmer meiner Mutter.
Kerzen brannten zu beiden Seiten der alten, mit Bienenwachs polierten Bettstatt aus Mahagoni; die Flammen zitterten und flackerten im Luftzug, der durch das offene Fenster kam. Das also war das Licht, das ich von draußen gesehen hatte.
Langsam, sehr langsam hob ich das Laken an, das sie bedeckte, und starrte ungläubig, denn das wächserne Gesicht, das ich auf dem Kissen erblickte, war das Gesicht einer Fremden, alt und unglaublich verändert.
Die Zeit verwüstet die Schönheit und bewahrt das Unscheinbare. Marie Perrault hätte ich in jeder Menschenmenge erkannt, aber an dieser verwelkten Frau auf dem Bett wäre ich auf der Straße vorbeigegangen, ohne sie zu erkennen.
Der Tod hatte sie häßlich gemacht, das Fleisch auf ihren Wangenknochen schrumpfen und ihre Augen so tief einsinken lassen, daß nun, eine letzte, bittere Laune des Schicksals, eine physische Ähnlichkeit zwischen uns bestand.
Und während ich sie betrachtete, begriff ich plötzlich, was sie gefühlt haben mußte, wenn sie mich anschaute. Endlich verstand ich ihre Abscheu, denn jetzt teilte ich ihn.
Ich spürte weder Zorn noch Trauer, als ich auf sie herabblickte, nichts außer Ekel, der es mir ermöglichte, jede Grausamkeit zu verzeihen, die sie je an mir begangen hatte.
Ja, ich verzieh ihr in diesem Augenblick alles, aber ich wandte mich ab, ohne die Hände zu berühren, die steif gefaltet auf ihrer Brust lagen.
Jetzt, da ich die Gelegenheit hatte, küßte ich sie nicht.
Ich wußte, sie hätte es nicht gewollt.
2. Kapitel
Als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte, fand ich Mademoiselle Perrault am Feuer, eine kleine Näharbeit im Schoß. Ich war von der Annahme ausgegangen, »Mademoiselle« sei noch immer die richtige Anrede, und nichts an ihrer traurigen, nachlässig gekleideten Gestalt deutete darauf hin, daß ich mich irrte.
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