Kay Susan
gedacht hätte. Hier, sehen Sie? Sie hat alles aufbewahrt, alles, was sie an Sie erinnerte.«
Ich starrte auf die Papiere, die zu Boden flatterten. Sie bewiesen nichts außer der Tatsache, daß meine Mutter eine notorische Sammlerin war, die nichts wegwerfen konnte. Wir hatten ganz von Relikten der Vergangenheit umgeben gelebt, Großvaters Architekturbücher, Großmutters englische Juwelen. Als ich jetzt zum Kamin blickte, sah ich einen Stapel Zeitungen, die viele Wochen alt sein mußten.
Marie kramte in den Schubladen und holte einen Stoß juristisch aussehender Dokumente hervor, die sie mir in die Hand drückte.
»Die Urkunden für das Haus, Einzelheiten über die Wertpapiere Ihres Großvaters«, erklärte sie fieberhaft. »Alles sollte in einem Bankfach in Rouen für Sie hinterlegt werden, es steht da in ihrem Testament, wenn Sie mir nicht glauben . . . «
Schuld, dachte ich mit einem Anflug von Selbstvorwürfen wegen meiner Herzlosigkeit, Schuld ist sicherlich das traurigste aller menschlichen Gefühle. Aber Schuld ist nicht Liebe. Arme Mutter.
Wortlos sammelte ich meine alten Notenblätter und Zeichnungen ein und warf sie ins Feuer. Dann, während Marie dastand und ihr Taschentuch an den Mund preßte, beugte ich mich nieder, um die Zeitungen einzusammeln, und warf sie ebenfalls ins Feuer.
Ich las niemals Zeitungen; ich hatte kein Interesse an der Gegenwart. Im Augenblick erregten nur Vergangenheit und Zukunft meine Vorstellungskraft. Die Possen der Kaiserin Eugénie gingen mich nichts an.
Mein Gott, einige dieser Zeitungen waren sechs Monate alt und wurden schon gelb. Aber eine war noch ziemlich neu, vom 13. Mai 1861. Meine Augen wurden unwiderstehlich auf den Leitartikel gezogen.
Garnier gewinnt Auftrag für Pariser Opernhaus.
Ich stand da, die Zeitung in der Hand, und verschlang den Artikel mit leidenschaftlichem Interesse. Charles Garnier, sechsunddreißig Jahre alt, Gewinner des öffentlichen Wettbewerbs um den Bau der neuen Pariser Oper.
Öffentlicher Wettbewerb?
Ich fuhr herum und sah Marie an.
»Was wissen Sie darüber?« fragte ich. »Was wissen Sie darüber?«
Sie wußte nicht viel, aber es genügte, um den Artikel zu ergänzen. Architekten waren aufgefordert worden, für diesen Wettbewerb anonym ihre Entwürfe einzureichen; ihre Namen und Adressen sollten in einem versiegelten Umschlag beigefügt sein.
Die erste Runde des Wettbewerbs hatte im Dezember begonnen, und im Dezember hatte mich zum ersten Mal dieses verheerende Gefühl von Rastlosigkeit übermannt. Da mir die Mittel fehlten, meine Vorahnung zu deuten – oder meine Intuition, was immer es war –, hatte ich kostbare Monate verstreichen lassen. Weil meine hochmütige Gleichgültigkeit gegenüber den Angelegenheiten der Menschen mich daran gehindert hatte, etwas so Einfaches wie eine Zeitung zu erwerben, hatte ich meine einzige Chance verpaßt, das strenge, hierarchische System zu umgehen, das normalerweise öffentliche Bauaufträge in Frankreich regiert. Durch meine eigene Nachlässigkeit hatte ich verloren gegen einen jungen, kaum bekannten Architekten, einen früheren Gewinner des Grand Prix de Rome.
Es war zu spät, um diesen Schrein für meine einzige reine, makellose Liebe zu entwerfen.
Eine Stunde verging, während der ich in das erlöschende Feuer starrte. Meine Ruhe kehrte allmählich zurück. Wenn es zu spät war, den ursprünglichen Entwurf zu schaffen, so war es doch noch nicht zu spät, auf der Baustelle zu stehen und zuzusehen, wie dieses große Mausoleum unter meiner Leitung entstand.
Zum Bauen war es nicht zu spät!
Ich verließ das alte Haus in Boscherville kurz vor Morgengrauen und überließ den Leichnam meiner Mutter der Obhut ihrer treuen Freundin. Marie würde die Schlüssel des Hauses aufbewahren und meine Anweisungen erwarten; ohne es auszusprechen, verließ ich mich auf ihre Diskretion.
Ich ging, ohne noch einen letzten Blick auf das tote, unschöne Gesicht meiner Mutter zu werfen. Ihre Schönheit war im Nebel meiner Erinnerung sicher begraben. Ich konnte sie nicht aus meinem Gedächtnis löschen, aber es gab mir einen gewissen Trost, daß ich dieses Gesicht niemals auferstehen sehen würde.
Außer der Illusion hatte sie für mich nie existiert.
Jetzt endlich konnte ich sie für immer vergessen.
3. Kapitel
Paris war ein weiterer Schock, auf den ich in keiner Weise vorbereitet war.
Die alte Stadt war im Begriff, unter den Händen des Kaisers und seines Präfekten, des Barons Haussmann, in der Versenkung zu
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