Kay Susan
verschwinden. Als ich mich im ersten grauen Tageslicht auf den Rückweg von dem Abrißplatz machte, auf dem die neue Oper entstehen sollte, kam es mir vor, als werde alles Exzentrische, Künstlerische und Historische zerstört durch den kaiserlichen Drang nach weit offenen Räumen und Einförmigkeit. Als ich die unpersönlichen Wohnblocks betrachtete, die die breiten Boulevards zu säumen begannen – ein Monument der Vulgarität, des Materialismus und des schlechten, grellen Geschmacks des Kaisers –, fand ich einen Augenblick lang den Tod zu gnädig für die tyrannischen Urheber dieser Zerstörung.
Im alten Paris hatte vieles im argen gelegen, aber es hatte nicht verdient, so erbarmungslos ausgeweidet zu werden – wunderschöne Gebäude, abgerissen aus keinem anderen Grund, als daß sie einfach dem Fortschritt im Wege standen. Das war Mord, Vergewaltigung und Ausplünderung in unvorstellbarem Maßstab; die Seele der Stadt blutete aus.
Ich ritt an den Stadtrand zu den neuen Elendsquartieren, in die die hohen Mieten in Haussmanns ruchlosen Neubauten die Verarmten getrieben hatten. Viele der Pariser kleinen Leute waren jetzt obdachlos, wanderten durch die Straßen wie Nomaden und suchten nach einem erschwinglichen Stückchen Wohnung. Ich sah Kinder in Rinnsteinen schlafen, in alte Zeitungen gewickelt, und mein Blut kochte angesichts so grausamer Ungerechtigkeit.
Es war hier, unter den Armen, wo ich eine Unterkunft fand. Ich hatte die Mittel, mir die besten Hotelsuiten von Paris zu leisten, aber instinktiv schreckte ich vor der Ablehnung der Reichen und Gutsituierten zurück, den argwöhnischen, widerwilligen Blicken, die immer der Auskunft vorangingen, ein bestimmtes Hotelzimmer oder geschmackvolles Appartement sei leider nicht frei. Nicht frei für mich, war damit natürlich gemeint: Ein Mann in einer Maske hat naturgemäß irgendein soziales Stigma zu verbergen. Die Armen waren weniger wählerisch, solange man bezahlen konnte, doch auch so schlugen mir drei Hausbesitzer hastig die Tür vor der Nase zu, ehe ich einen Mann fand, der geldgierig genug war, um seine instinktive Furcht vor mir zu überwinden.
Ich bezahlte den erpresserischen Preis, den er für heißes Wasser verlangte, und nachdem ich gebadet hatte, setzte ich mich hin und schrieb den Brief, der Jules Bernard aus Belgien herbeirufen würde. Seine rechtschaffene, gutgekleidete Gestalt, gepaart mit meinem Geld, würde mir eine Zeitlang Unterkunft in einer bekömmlicheren Gegend erkaufen, bis die unvermeidliche Hetze und Erpressung mich erneut zwangen weiterzuziehen. In den letzten fünf Jahren hatte er alle meine Wohnungen für mich erworben, und meine zunehmende Abhängigkeit von ihm paßte mir ebensowenig wie meine wachsende Unfähigkeit, mich dem Gestarre von Schneidern und Schuhmachern auszusetzen. Was immer ich jetzt brauchte, besorgte Jules für mich, alles, von Hemden bis zum Morphium. In Rußland und im Orient hatte ich meinen Geschäften mit einer gewissen Freiheit nachgehen können, doch hier im Mekka der zivilisierten Welt, wo alles so wohlanständig war, fühlte ich mich mehr und mehr wie eine gejagte Spinne, die sich in ihrem Netz versteckt. Rapide verlor ich die Spannkraft und den Optimismus der Jugend; ich wußte, daß ich jetzt eher verhungern würde, als zu singen oder mich in irgendeiner Weise vor einer Menschenmenge zur Schau zu stellen. Neuerdings zog ich es vor, im Dunkeln zu arbeiten, ungesehen und ungehört. Und dazu brauchte ich Jules.
Ich wußte, nach Empfang meines Briefes würde er unverzüglich kommen, aus dem einfachen Grund, daß er nicht wagte, sich zu weigern.
Und sobald er käme, würde ich ihn an die Arbeit schicken.
∗ ∗ ∗
Sechs Wochen später hatte ich alles, was ich brauchte.
Für einen achtbaren Mann erwies sich Jules als überaus geschickter Spion. Ich wußte alles, was ich wissen mußte, über Garnier und seine Entwürfe, und einige der besten Bauleute der Gegend standen in meinen Diensten. Nachdem Jules die Nachricht in den richtigen Vierteln ausgestreut hatte, brachte die materielle Gier die Männer einen nach dem anderen an meine Tür, wo sie sich meiner strengen und genauen Überprüfung stellen mußten. Ich war bereit, für das Beste zu zahlen, und ich lehnte rücksichtslos alles andere ab, bis ich es fand.
Als ich Garniers Pläne zum ersten Mal sah, hatte mein Instinkt mir geraten, das ganze Projekt aufzugeben und sofort nach Belgien zurückzukehren, denn die Entwürfe der Außenfassaden
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