Kay Susan
Hingabe an meine Stimme, absolute Unterwerfung unter seinen Willen.
»Wenn du nicht still bist, muß ich dich knebeln«, sagte er, und trotz seines freundlichen, humorvollen Tons wußte ich, daß er notfalls bereit war, diese Drohung wahrzumachen.
Er schrieb einen Brief an die Direktion und wies sie an, während meiner Indisposition die zweite Besetzung auftreten zu lassen. Dann umsorgte er mich, als sei ich ein kleines Kind. Stundenlang lag ich auf dem Sofa, mit einer Wolldecke zugedeckt, und starrte immer wieder auf das Kästchen auf dem Kaminsims. Ich wollte mir dieses Porträt seiner Mutter noch einmal ansehen, denn ich war von seiner bloßen Anwesenheit im Zimmer geradezu besessen. Ich wußte jedoch, daß ich um seinetwillen keine Anspielung auf das machen durfte, was mir rasch zur fixen Idee wurde. Diese seltsame, grausame Verknüpfung in unserer einzigartigen Beziehung würde einer Untersuchung nicht standhalten. Aber ich dachte endlos an die Frau, der ich so sehr ähnelte, und fragte mich, was sie wohl getan haben mochte, daß er sie haßte und sich mit so schrecklichem Schmerz an diesen Haß erinnerte. Manchmal frage ich mich, ob er in seinem ganzen Leben jemals einen einzigen Augenblick wahren Glücks erlebt hat.
Gestern verkündete er, meine Stimmbänder seien nun von Infektionen frei, und er gestattete mir, ein paar Tonleitern zu üben. Mit erschreckender Intensität lauschte er der Qualität meiner Intonation. Offensichtlich war er zufrieden mit dem, was er hörte, denn er sagte, ich könne heute meine Unterrichtsstunden wieder aufnehmen und am folgenden Abend in der Oper die Margarete singen.
». . . und heute abend, wenn die Luft weiterhin mild genug für deinen Hals bleibt, könnten wir eine Kutsche nehmen und in den Bois de Boulogne hinausfahren. Würde dir das gefallen, Christine?«
»Ja«, sagte ich ein wenig überrascht. Wir hatten gelegentlich auf dem See gerudert oder am Ufer einen Spaziergang gemacht, aber nun schlug er zum ersten Mal vor, mich hinaus in die wirkliche Welt zu führen.
Wir fuhren zu den Stadttoren von Paris, wo sich smaragdgrün und abgezirkelt der Bois erstreckt, stolzes Zeugnis des Widerwillens des verstorbenen Kaisers gegen Unordnung. Eine Zeitlang erforschten wir die stillen, verlassenen Pfade, die bei Sonnenschein Scharen von Besuchern anlockten. Selbst an den kältesten Wintertagen zog es Hunderte von Schlittschuhläufern auf den zugefrorenen See und in das Chalet, das sich auf der Insel in der Mitte befand. Herren mit vermummten Gesichtern schoben feine Damen auf Schlitten, und livrierte Diener führten in Überzieher gehüllte Windhunde aus. Im Sommer gab es Gondeln auf diesem See, mit bunten Lichtern behängt, und eine endlose Prozession fröhlicher Pariser, die durch die zoologischen Gärten schlenderten. Lauter schlichte, menschliche Vergnügungen, von denen ich wußte, daß Erik niemals daran hätte teilnehmen können, nicht einmal in der Zeit, als er noch in der Welt lebte. Wenn er schon früher dort gewesen war, so zweifellos nach Einbruch der Dunkelheit, wenn der Park kalt und leer war, ganz ohne Lachen und Fröhlichkeit.
»Dieser Ort ist ein vollkommener Triumph von Eleganz und Künstlichkeit«, bemerkte er nachdenklich, als wir etwa eine Stunde später wieder in Richtung unserer Kutsche gingen. »Auf dem See gäbe es bestimmt mechanische Enten, wenn der Kaiser nur die Voraussicht besessen hätte, sie zu bestellen.«
Ich beobachtete ihn vorsichtig, weil ich unsicher war, wie er direkten Widerspruch aufnehmen würde.
»Ich finde es recht hübsch«, sagte ich.
Er schien überrascht, aber nicht ärgerlich.
»All das ist nur Schein, Christine, nicht mehr als ein schlauer Trick der Ingenieure. Dieser ganze Park trägt eine Maske. Was du siehst, ist nicht die echte Natur.«
»Nun, vielleicht . . . vielleicht möchte ich die Wirklichkeit gar nicht sehen.«
»Du hast also nichts gegen die Täuschung der Sinne?« fragte er mit behutsamem Optimismus. »Du könntest unter bestimmten Umständen gewisse Illusionen vielleicht akzeptabel finden?«
Wir hatten die Kutsche erreicht und wandten uns einander zu, um uns anzusehen. Zögernd, als kämpfe er die warnenden Erfahrungen eines ganzen Lebens nieder, bot er mir seine behandschuhte Hand, um mir beim Einsteigen zu helfen. Es war das erstemal, daß er mich zu einer direkten körperlichen Berührung einlud, und der Augenblick war bedeutungsvoll für uns beide. Meine Finger brauchten nur diesen kleinen Abstand zwischen
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